Abendtod

Autor: Rehaugenfrau87
veröffentlicht am: 19.04.2011


Dieses Gefühl eines Atemhauchs, gequält, als wäre es der letzte, der aus mir entweicht, befällt mich, sowie ich den Schlüssel im Schloss herumdrehe. Das Licht in der Diele wabbert mir fahl und dunstig entgegen, obwohl die Sonne hereinscheinen müsste, durch diese großen Fenster, die sie immer haben wollte. Ich lege den Teil von mir, jenen, der lebendig ist, mit meiner Jacke an der Garderobe ab. Im Spiegel kann ich sehen, dass ich um zehn Jahre gealtert bin, seitdem ich das Haus betrat.
Und wie jeden Tag, stelle ich auch heute fest, dass die Wände dieses Hauses den Geruch seiner Bewohner absorbieren, als hätte es keine. Gleichgültigkeit ist geruchlos.

Es ist ihre Anwesenheit, die alles Helle, Gute, Duftende stoppt, das von draußen hereinkommen könnte. Das Lebendige meidet ihre Nähe. Warum nicht auch ich, fragen Sie. Nun, nennen wir es Hoffnung, nennen wir es Verantwortung, nennen wir es – Sühne.

Emma. Liebe, schöne Emma! Während ihrer Schwangerschaft war sie schöner denn je. Ich konnte nicht genug bekommen von der Weichheit ihrer Haut, ihrem Geruch, der cremig war und zart, sosehr zart. Sobald ich ihre Nähe auch nur ahnte, griff ich nach ihr, streichelte ihren prallgewölbten Bauch. Unzählige Male strich ich über ihre schwer gewordenen Brüste, küsste den Stoff über den Brustwarzen, die dunkler geworden waren in den letzten Monaten. Den größten Teil solcher Tage verbrachte Emma den kupfergelockten Schopf über Schwangerschaftsratgebern versenkt, sprang dann urplötzlich auf, warf die Arme in die Luft, streckte sich und lachte.
„Man könnte meinen, ein Kind zu bekommen erfordert mindestens einen akademischen Titel!“, rief sie aus oder sie sagte grinsend: „Du Irrer.“, wenn sie die neue Überraschung entdeckte, die ich ihr mal wieder mitgebracht hatte. Dann war da
wieder ihr Lachen. Dieses laute, kehlige Emma-Lachen, das die Leute auf den Straßen dazu brachte, sich nach uns umzudrehen, das diese Leute überzeugte, es mit niemand Geringerem als einem Engel zu tun haben; einem hochgewachsen, fragilen Engel mit Alabasterhaut und Haaren von geschmolzenem dunklen Gold.
Emma.
Ich liebte sie, liebte sie mit jeder Faser meines Seins und an Tagen wie diesen konnte ich es nicht erwarten, bis wir zu Hause waren und ich über sie herfallen konnte.
An jenem Nachmittag jedoch sehnte ich mich, übernächtigt und angespannt von einer anstrengenden Geschäftsreise, nach einer halben Stunde völliger Stille.
Ein paar Minuten nur, in denen ich nichts tun wollte, außer die Augen zu schließen und meinen eigenen Atemzügen zu lauschen. Wäre ich doch in der Garage geblieben, denn ausgerechnet heute war auch Emma in elendiger Laune. Wegen einiger Kanalarbeiten hatte es am Vormittag kein Wasser gegeben, die Spedition, die die Kinderzimmermöbel liefern sollte, hatte sie versetzt, außerdem hatte sie einige Schwangerschaftsstreifen auf ihrer wundervollen Haut entdeckt. Und dann fand sie auch noch ihren Ehemann, den sie zwei lange Tage nicht gesehen hatte, dösend im Garten vor... Kurz: Der Streit war vorprogrammiert. Ich brauchte nur einen Satz, um sie explodieren zu lassen, sie nur einen Konter, um mich aus dem Haus zu treiben. Ich tat das nicht ohne Fluchen und Türenknallen, stieß sie zurück, als sie nach meinem Ärmel fasste... Sie sehen, der ganz normale Streit eines ganz normalen Pärchens.

Wohin ich an diesem Tag fuhr, weiss ich nicht mehr. Auch blieb ich nicht allzu lange weg, doch als ich wiederkehrte, stand die Haustür auf anklagende Weise offen. Emma war fort. Kein Zettel, keine Nachricht... Ihre Stiefel lagen im Flur herum, wie immer, ihre Jacke hing am Haken, ihr Schlüssel - Ich brauchte eine Weile, um zu kapieren, dass Emma barfuss mit dem Wagen unterwegs war.

Dann sah ich das Blut. Panik. Eine bleierne Hand, die dich in der Körpermitte packt und dich zu Boden zwingt, bis du mit deiner Stirn den Boden berührst und deine Lippen blutig sind von den Schreien, die du zwischen deinen Zähnen zermalmst.

..........Mit der einen Hand schleuderte ich den erstbesten Gegenstand gegen die zugefallene Tür, die andere lag mit aller Sanftheit zu der ein Mensch fähig ist, auf meinen ungeborenen Kind. Er hatte mich gestoßen, weg von sich und gegen diesen verdammten Schrank. Ich hatte die spitze Kante ins Kreuz bekommen, was sich in meinem Zustand anfühlte, als wäre ich von einem Lkw angefahren worden. Hauptsächlich aber zitterte ich vor Wut. Ich wollte schreien. So gellend und so laut ich nur konnte, wollte den Druck dieses unglückseligen Tages sprengen und wieder
Platz schaffen für neue Wärme, für neues Licht.
Und dann schrie ich wirklich – vor Schmerzen, die über mich herfielen, so unvermittelt, so brutal, dass sie mir die Beine unter dem Körper wegfegten. Ein stählendes Band wurde um meinen Leib gelegt und mit höhnischer Präzision zugezogen. Eine Ewigkeit, so schien es mir, wand ich mich auf den kalten Fliesen, blind, taub und fast erstickt vor Schmerzen. Dann endlich ließen die gleißenden Blitze von mir ab. Ich konnte es kaum glauben, fast lächelte ich schon wieder.
Für den Bruchteil einer Sekunde fand ich die flüssige Wärme zwischen meinen Schenkeln beinahe beruhigend, bis ich begriff... „NEIN!“ Acht Wochen noch! Baby, noch acht Wochen. Tu mir das nicht an, nein, tu mir das nicht an! Doch es strömte unaufhaltsam aus mir heraus.
Ich dachte, wenn ich aufstünde, würde ich feststellen, dass alles in Ordnung war. Vermutlich hatte ich dumme Kuh mich angepisst (die Frau in der Tena-Werbung ist die einzige Frau, die sich vollpisst und der man doch nen flotten Dreier abkauft, oder? Er würde sich wahrscheinlich jetzt auch anpissen – vor Lachen).
Ich dachte, wenn ich einen Lappen in die Hand nähme und den Boden säuberte, würde alles wieder gut werden.
Ich dachte, wenn ich eine Dusche genommen, mich eingecremt und mir frische Sachen angezogen hätte, könnte ich mich draußen auf die Veranda setzen und einen Saft trinken.
Ich dachte, so ist das also, wenn man stirbt, als ein neuer Schmerz durch meinen Leib raste. So furchtbar in seiner Heftigkeit, dass er kein anderes Empfinden zuliess, außer dem, in einer glühenden Falle zu stecken, zu ersticken und gleichzeitig zu verbrennen. Mein Blick richtete sich nach innen und ich sah die Krämpfe, die mein Baby durchzuckten. Der Name meines Mannes fiel mir wieder ein und ich brüllte ihn in den Abend. Mein Mund riss sich auf, doch es kam nur ein gurgelndes Lallen, und dann spürte ich, wie mein Baby mit seinem Köpfchen in mein Becken gequetscht wurde. Es gab ein kurzes, knackendes Geräusch, wie das Brechen eines morschen Astes. Falls ich in diesem Moment noch Schmerzen hatte, ich empfand sie nicht mehr. Alles in mir reduzierte sich auf das Notwendigste, mein Kind. Ich glaube, ich wimmerte, als ich auf allen Vieren zur Haustür kroch. Alle paar Atemzüge legte ich meine Hand auf meine Vulva.
Ich brauchte keinen Finger einzuführen, um das Köpfchen meines Babys zu ertasten. Mir schien, ich bräuchte nur ein-, zweimal pressen und es würde sofort aus meinem Schoß gleiten. Vielleicht ahnte ich bereits zu diesem Zeitpunkt, warum ich nicht presste.
Ich schaffte es in meinen Wagen zu krabbeln, ich schaffte es sogar, den Motor anzulassen und loszufahren. Doch nach einem knappen Kilometer Fahrt wartete mein Körper nicht mehr darauf, dass ich den Befehlen, die er mir ununterbrochen gab, endlich gehorchte.
In dem Moment, da der Kopf meines Babys aus mir herausglitt, in dem Moment, als der Motor des Wagens mitten auf der Straße erstarb, in dem Moment, in dem ich nicht mehr leugnen konnte, dass mein Baby tot war, in diesem Moment drehte ich mich um und öffnete eine andere Tür...........

Die Ärzte im Krankenhaus waren zuversichtlich, was Emmas völlige Genesung betraf. Einer neuen Schwangerschaft stehe trotz der bedauerlichen Totgeburt nichts im Wege. Was das psychische betraf, nun, Emma hatte ein lebensbejahendes, fröhliches Wesen, sie würde schon wieder...
Emma „wurde“ nie wieder.
Seit jenem Tag vor fünf Jahren hat Emma nie wieder ein Wort gesprochen, mich nicht einmal angesehen. Was mich Tag für Tag erwartet ist eine alterslose Frau mit beinahe durchscheinender Haut, die in einem Korbsessel sitzt und aus dem Fenster starrt ohne etwas zu sehen.
Gott weiss, dass ich auf der Lauer lag. Nächtelang, um nur eine einzige Bewegung von Emma zu erhaschen. Ein einziges Mal nur wollte ich sehen, wie sie ein Glas Wasser an ihre Lippen setzt, ein einziges Mal sehen, wie sie ihr Haar bürstet... Ich gab es auf, wohlwissend, dass sie eher in diesem verdammten Sessel sterben würde, als mir auch nur einen einzigen Hinweis zu liefern, dass sie noch irgendwo in dieser schmalen, stummen Hülle steckt. Und doch suche ich sie. Tag für Tag. Ich setze mich zu ihr, sehe sie an und rede mit ihr. Erzähle ihr von meinem Tag, frage sei nach ihrem. Ich zähle ihre Lidschläge, multipliziere sie mit meinen Tränen und addiere sie zu der Zeit, die ich bereits warte. Ich habe sie nie wieder berührt. Meine Erinnerung weiss mittlerweile mehr, als meine Sinne über die Beschaffenheit dieser porzellanzarten Haut, dem Duft dieser weichen Locken und meine Sehnsucht zehrt davon.
„Emma...“, flüstere ich und versuche meinen Blick in ihre Augen zu krallen. An dem polierten Blau ihres Blicks gleitet alles ab. „Emma, Liebes, wo bist du?“ Wie oft habe ich das gefragt?
Ihr Atemzug gleicht dem Flattern eines Kükens. Eine Begrüssung? Mein Herz macht einen Sprung. Noch intensiver, noch hartnäckiger starre ich sie an, weigere mich die Müdigkeit zu spüren, die meine Mühe verhöhnt. Emmas Augen fokussieren mich. Größer und größer werden ihre Pupillen. Schwarze Tunnel, die mich einladen. Gebannt beuge ich mich vor, ein Sog erfasst mich. Dann ein Poltern. Habe ich den Sessel umgestoßen? Mit dem nächsten Lidschlag vergesse ich diesen dummen Gedanken.

Ich finde mich im Garten wieder, den Geruch frisch gemähten Grases einatmend. Fast wäre ich auf die Liege zurückgeplumpst, auf der ich ein Nickerchen abgehalten habe. Etwas Nasses, Kaltes hat mein Gesicht getroffen. „Emma, Emma!“, brülle ich, nicht wirklich empört. Emma zielt wieder mit dem Schlauch auf mich. Sie lacht ihr Emma-Lachen. Den Kopf mit den tanzenden Locken weit in den Nacken geworfen. „Du Irrer bist eingepennt. Am helllichten Tag! Alter Mann!“ Sie ahmt einen Tattergreis nach, kommt hinkend und schielend auf mich zu. Ich zucke die Achseln, tue, als wollte ich gleichmütig ins Haus gehen, schlage plötzlich einen Haken und bekomme Emma zu packen. Sie kommt aus dem Kichern nicht heraus, als ich mich in dem Schlauch verheddere und fast umfalle. Der Träger ihres Shirts ist verrutscht und ich entdecke eine Sommersprosse, die ich nie vergessen konnte. Jemand umschlingt meine Beine. Das Mädchen hat riesige Augen von intensivstem Emma-Blau. „Papa, ich hab’ zweimal Eis gekriegt!“ „Eva...“, mit einem Mal fällt mir der Traum ein...
Ein Traum! Ich möchte lachen, gröhlen, mir auf die Schenkel klopfen. Meine Stimme hört sich an wie die eines Irren, als ich dem Drang nachgebe. Vage bekomme ich mit, wie Emma unsere Tochter ins Haus schickt, damit sie sich wäscht. Sie fällt in mein brüllendes Lachen ein, als wüsste sie ganz genau, was in mir vorgeht. Mit meinem Mund bringe ich sie zum Verstummen.
Ich höre mich ihr sagen, dass ich mit ihr schlafen will. Ich nehme sie auf meine Arme, höre nicht auf, sie zu küssen, kriege nicht genug von der Haut, dem Geruch, den Berührungen meiner Frau. In meinem Brustkorb ist etwas, das immer größer zu werden scheint. Im Taumel meines Glücks erkenne ich zu spät, dass es mein Herz ist, das sich unnatürlich ausdehnt. Jeder Herzschlag dröhnt durch mein Inneres wie das tausendfache Echo eines Gongs.
Dann kommt der Schmerz.
„Emma!“, rufe ich. Dunkle Wolken schieben sich vor meine Augen, ein sirrender Ton jagt durch meinen Kopf. Ich taumele, meine Arme greifen ins Leere. Ich reisse die Lider auf.
Mit dem letzten Rest Klarheit begreife ich, dass ich vor Emmas Korbstuhl zusammen breche. Ihr marmornes Gesicht ist über mir. Ganz nah.

„Mörder.“








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