Zum Glück gibt es Wunder

Autor: Yaksi
veröffentlicht am: 11.04.2011


Pure Euphorie durchflutete mich, als ich aus der stickigen Schule rannte und mich auf dem Schulhof einmal um die eigene Achse drehte. Ich lachte, schloss die Augen und genoss die warme Sonne, welche in mein Gesicht schien. Wie lange hatte ich diese Hitze vermisst? Wann war ich das letzte Mal mit einem T-Shirt zur Schule gegangen? Der Winter hatte mich versteinert, die Kälte mich gelähmt. Doch jetzt konnte mein Herz endlich wieder auftauen.
Genau in diesem Moment knallte ich gegen eine Person und fiel unsanft zu Boden. Mein Steißbein beschwerte sich, als ich auf meinen Hintern fiel. Überrascht riss ich die Augen auf und schaute verwirrt nach oben. Vor mir stand ein Junge mit zerzausten blonden Haaren, den ich bisher noch nie gesehen hatte. Hatte er es tatsächlich gewagt, mich aus meinem Hochmut zu reißen? Na gut, eigentlich war es meine Schuld, dass ich ihn angerempelt hatte, aber der Junge hätte ja ausweichen können, oder etwa nicht?
Verärgert rappelte ich mich wieder auf, klopfte den Dreck von meiner Hose und stemmte die Hände in die Hüfte. Ich wollte gerade etwas sagen, als mir sein schelmisches Grinsen auffiel, welches seine weißen Zähne zum Vorschein brachte. Seine strahlend blauen Augen schauten mich belustigt an, während er seine Tasche schulterte und mich mit hochgezogenen Brauen musterte. Wollte er sich nicht mal entschuldigen?
„Nicht so stürmisch, Kätzchen. Wenn du die Aufmerksamkeit von mir haben möchtest, kannst du das auch auf eine andere Weise machen“, sagte er grinsend. Empört blinzelte ich ihn an, während er sich an mir vorbei schob und lässig zum Schuleingang schlenderte. „Und fang nicht an zu sabbern! Das könnte peinlich werden!“, rief er mir noch zu und verschwand dann im Gebäude.
Ich kochte vor Wut und ballte meine Hände zu Fäusten. Was bildete sich der Typ eigentlich ein? Er ist neu auf der Schule, kommt zu spät zum Unterricht (denn die große Pause hatte schon längst angefangen), hatte mich aus meinen Tagträumen gerissen und nun hatte er mich provoziert! Dahinter steckte doch nur eine Botschaft: Dieser Blondie wollte Krieg – und den konnte er haben.
Vor nicht mal zwei Minuten hatte ich das schöne Kribbeln der Glücksgefühle in meinem Bauch gehabt und im nächsten Moment war ich auf Hundertachtzig. In meinem Kopf ratterte und dampfte es und ich überlegte fieberhaft nach einem Plan, wie ich es diesem Blondchen zeigen konnte, so dass der Tag doch noch gut zu Ende gehen würde. Da spürte ich plötzlich eine schmale Hand auf meiner Schulter. Verwirrt drehte ich mich um und schaute in zwei vertraute braune Augen, die mich besorgt anschauten. Das Mädchen mit den braunen, gelockten Haaren seufzte und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Alles in Ordnung, June?“, fragte sie mich.
Ich presste die Lippen zusammen, um meine Flüche nicht laut auszusprechen und atmete tief ein und aus. Schließlich nickte ich und meine beste Freundin hakte sich bei mir ein. „Dann ist ja gut. Der Junge ist es nicht wert. Lass ihn einfach in Ruhe“, sagte sie und führte mich in den Schatten.
Ich war froh, dass Mona meine Freundin war, denn ohne sie, hätte ich bestimmt schon jede Menge Ärger am Hals gehabt. Ich war eigentlich keine Schlägerin, sondern eher eine liebe Person. Doch leider konnte man mich schnell auf die Palme bringen und somit handelte ich mir selbst meistens den Ärger ein. In mancher Hinsicht war ich ein ziemlicher Hitz –und Sturkopf. Auch wenn ich meine unüberlegte Tat nachher oft bereute. Deswegen war Mona so was wie mein kleiner Schutzengel. Sie war zierlich, ruhig und eine schlaue Person, die mich vor dem Bösen bewahrte. Eine bessere Freundin konnte man sich einfach nicht wünschen.
Wir setzten uns auf eine Bank unter einem Baum und beobachteten die Schüler auf dem Schulhof. Viele standen in kleinen Grüppchen, lachten oder tuschelten. Andere spazierten einmal um die Schule und die vielen Fünftklässler brüllten sich die Seele aus dem Leib, während sie sich mit Stöckern attackierten und eine Lehrerin verzweifelt versuchte, das Chaos wieder in Ordnung zu bringen.
Ich musste lächeln und lehnte mich mit geschlossenen Augen zurück, wobei ein warmer Wind durch mein schwarzen Haare wehte.
„Ich muss dir was erzählen“, hörte ich Mona’s Stimme.
Neugierig öffnete ich ein Auge und schielte zu ihr hinüber. Ich runzelte die Stirn, als ich sie nachdenklich auf den Boden starren sah. Sie wirkte sehr ruhig, was eigentlich normal bei ihr war. Doch in diesem Moment war sie schon fast zu ruhig.
„Was ist los?“, fragte ich und setzte mich nun aufrecht hin. Ich beugte mich leicht zu ihr rüber, um ihren Gesichtsausdruck zu sehen und als sie mich dann schließlich ansah, schnappte ich überrascht nach Luft, als ich die Tränen in ihren Augen bemerkte. „Mona, wieso –“
„June…“, schluchzte sie leise. „Meine Eltern haben schon vor Tagen eine Entscheidung getroffen“
Ein mulmiges Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Was für eine Entscheidung meinte sie? Wieso zog sie das alles in die Länge? Nervös beleckte ich meine Lippen und wartete darauf, dass sie weiter sprach. Doch Mona weinte nur und wischte sich verzweifelt die Tränen weg. Ich berührte sie vorsichtig am Arm, doch sie schüttelte mich ab. Diese Reaktion hatte ich noch nie bei ihr gesehen, weshalb ich sie auch ein wenig bestürzt ansah. Sie merkte dies und schüttelte nur den Kopf.
„Es tut mir so leid, June. Meine Eltern haben eine neue, bessere Arbeit in einer anderen Stadt gefunden. Dort würden sie mehr Geld verdienen und ihr Arbeitsplatz wäre auch näher am Haus, welches sie sich schon ausgesucht haben. Für sie passt einfach alles perfekt zusammen“
Der Tränenschleier benetzte ihr zartes Gesicht und diese unendliche Traurigkeit passte nicht zu Mona. Ich wusste, was sie mir sagen wollte. Doch ich wollte es nicht wahr haben. Der Stich in meinem Herzen und die plötzliche Kälte ließ mich für einen kurzen Moment an den schrecklichen Winter denken: Kalt, dunkel und herzzerreißend. Meine Unterlippe begann zu zittern, was darauf hindeutete, dass die Tränen in meinen Augen drohten auf mein Gesicht zu schwemmen. Die Wärme um mich herum und die Kälte in meinem Körper machte mich schwindelig. Wahrscheinlich war mein Gesicht gerade genauso blass wie der Schnee.
Als dann Mona meine feuchten Hände nahm und sie kurz drückte, brach ich in Tränen aus. Ich war schon immer ein emotionaler Mensch gewesen. Doch ich wollte nicht, dass Mona ging. Für immer fort von mir. Nur noch Telefonabende oder Briefe. Niemand, der mich beruhigte, tröstete, mich warnte oder mit mir lachte.
„Ich werde fortziehen, June. Aber vergiss nicht: Das heißt noch lange nicht, dass ich aus der Welt bin. Wir werden immer noch in Kontakt bleiben, okay? Auch wenn uns 400 Kilometer trennen werden“
400 Kilometer, dachte ich traurig. So weit entfernt würde meine zweite Hälfte leben.







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