Wunderschön !? - Teil 12

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 19.05.2011


Das erste, was Aurelius wahrnahm, war ein übler Gestank. Binnen zwei Sekunden war er hellwach. Er hustete und würgte.
„Guten Morgen!“, rief Herr Girschner und wedelte mit der Plastiktüte, die einen äußerst strengen Geruch verströmte. Nun hielt er sie auch Tim unter die Nase.
„Boah, iehhh! Was ist das?!“, fragte Tim.
„Gut nicht?“, grinste der Hausvater. „Es handelt sich hierbei um ein belegtes Brot mit Eiersalat. Ich habe es gestern Abend unter dem Schuhregal gefunden. Ich schätze, es ist schon etwas älter. - So, ihr seid wie immer die letzten beim Wecken. Jetzt auf zum Morgenlauf. Hop, hop!“
Aurelius sprang aus dem Bett und riss das Fenster auf. Nieselregen. Keuchend sog er die frische Luft ein. Der Gestank schien allgegenwärtig.
Er trottete nach draußen und absolvierte seine Runde über den Hof. Seine Cousine sah aus dem Fenster. Er winkte ihr zu, doch dann fiel ihm auf, dass sie gar nicht zu ihm, sondern zu Sergej hinübersah, welcher ein irres Tempo an den Tag legte, um kriechend zurück ins Haus zu gelangen.
Nur, weil ihn ein Mädchen im Schlafanzug sah?
Aurelius grinste in sich hinein. Zurück in seinem Zimmer zog er sich an, er entschied sich für sein grünkariertes Hemd, und machte sich, ausgestattet mit seiner Waschtasche, auf den Weg zum Waschraum. Heute war die perfekte Stimmung für Ringelnatz. Aurelius öffnete die Tür und legte los:

„Wo man hobelt, fallen Späne.
Leichen schwimmen in der Seine.
An dem Unterleib der Kähne
Sammelt sich ein zäher Dreck.
An die Strähnen von den Mähnen
Von den Löwen und Hyänen
Klammert sich viel Ungeziefer.
Im Gefieder von den Hähnen
Nisten Läuse; auch bei Schwänen.
(Menschen gar nicht zu erwähnen,
Denn bei ihnen geht\'s viel tiefer.)
Nicht umsonst gibt\'s Quarantäne.
Allen graust es, wenn ich gähne.
Ewig rein bleibt nur die Träne
Und das Wasser der Fontäne.
Kinder, putzt euch eure Zähne!!“

Sergej, der gebeugt am Waschbecken stand, wedelte demonstrativ mit seiner Zahnbürste und spülte sich den Mund aus.
„Sag mal, ich habe heute früh rein zufällig mitbekommen, wie du beim Morgenlauf hinter den Büschen entlanggerobbt bist. Testest du neue Tarntechniken fürs Militär, hattest du etwas verloren oder lag es daran, dass mein liebes Kusinchen am Fenster stand?“, zog Aurelius Sergej auf.
„Sag mal, bist du jetzt mit Wilma zusammen?“, gab dieser zurück.
„Also, ich frage mich manchmal, wie du immer wieder auf deine absurden Einfälle kommst.“, murmelte Aurelius und begann, seine Haare zu kämmen.

-

Für diesen Nachmittag hatte sich Sergej wieder mit Josephine verabredet. Biologie.
„Ich finde es sehr wichtig, dass du schnell alles aufholst.“, hatte er gesagt. Er hasste sich für seine Feigheit.
Josi wartete bereits im Klassenzimmer. Im Aufenthaltsraum des Internatsgebäudes war es nicht ruhig genug zum Lernen.
„Da bist du ja! Ich habe ungefähr zwanzig Bücher ausgeliehen.“, lachte er und stellte den Bücherstapel auf den Tisch. „Ich schlage vor, du machst mal diese Aufgabe, ich sehe zu.“
„Das ist unfair!“, beschwerte sie sich. Er zuckte mit den Schultern.
„Wenn du willst, bekommst du auch eine Belohnung…“, schlug er vor.
„Na gut. Wenn ich sie richtig löse, gehst du mit mir Eis essen.“, sie sah ihn unsicher aus ihren wunderschönen blauen Augen an. Sergej nickte. Sein Mund fühlte sich trocken an.
Hatte sie sich gerade mit ihm ‚verabredet‘?
Sofort schaltete sich die Stimme in seinem Kopf ein: ‚Los! Sag was. Sag ‚das wäre aber für mich eine Belohnung‘ Nein. Viel zu kitschig. Sag lieber: ‚Das wollte ich so wie so vorschlagen.‘ Ach komm, sag einfach IRGENDWAS!‘
„Na gut, dann fang ich mal an.“ Sie beugte sich über die Aufgabe und begann zu schreiben.
‚Mist! Zu spät. Du bist ein Idiot!‘, schnauzte er sich selbst in Gedanken an.
Sie schrieb Zeile für Zeile mit ihrer schrägen Schrift. Er wusste, dass sie keinen Fehler machen würde. Eine gelockte Haarsträhne war ihr ins Gesicht gefallen und sie pustete sie immer wieder weg. Ohne darüber nachzudenken, streckte Sergej seine Hand aus und strich sie zurück.
Sie sah auf.
‚Oh verdammt. Was machst du?‘
„Ähhhääm. Bist du fertig?“, fragte er, um abzulenken. Seine Hand fühlte sich etwas fremd an. Er musste sich zwingen, Josi nicht anzustarren.
„Gleich.“, sie schrieb noch eine Zeile und setzte einen Punkt. Sergej las nicht einmal, was sie geschrieben hatte.
„Gut, gehen wir raus. Schluss für heute.“, schlug er vor. Sie lachte und schüttelte amüsiert den hübschen Kopf.
Der Regen hatte aufgehört.
„Weißt du, was komisch ist?“, fragte Josi auf einmal. Sergej schüttelte den Kopf.
„Wir kennen und erst so kurz und trotzdem verstehen wir uns so gut. Ich hab das Gefühl, du könntest glatt mein Bruder sein.“
‚Jetzt sag endlich was!‘, rief seine innere Stimme. ‚Gleich ist der Moment vorbei - SCHNELL!‘
„Aber du nicht meine Schwester!“, rief er hastig aus.
„Oh.“, machte sie erschrocken. „Ich dachte, wir wären Freunde.“
„Ich meinte damit nur, du bist für mich - mehr als meine Schwester. Und ich will mit dir nicht nur befreundet sein.“, erklärte er schnell.
‚Oh Gott. Warum sagt sie denn nichts? Du hast es kaputt gemacht! Trottel!‘
Sie sah ihn immer noch aus großen Augen an.
„Machst du dich über mich lustig?“, brachte sie schließlich hervor.
„Was? Nein! Warum auch!? Sieh mich an! Sieh mir in die Augen. Ich habe dich wirklich gern. Ich schwöre, wenn du willst.“ Er hob beide Hände.
Sie sagte immer noch nichts.
Sollte er einfach schnell weglaufen? Nein. Jetzt war es zu spät. Jetzt musste er aufs Ganze gehen. Es gab kein Zurück mehr.
Er beugte sich zu ihr herab – sie war wirklich klein – legte eine Hand an ihr Kinn und küsste sie auf die Wange. Dann sah er sie fragend an.
Josephine war immer noch regungslos. Dann, plötzlich, wie einer inneren Eingebung folgend, legte sie einen Arm an seinen Hals und küsste ihn zaghaft auf den Mund.
Sergej bemerkte kaum den einsetzenden Regen, der in dicken Tropfen auf sie herniederprasselte.
Er sah nicht Anna, die mit ihren Stöckelschuhen im Schlamm stecken blieb.
Nicht einmal Aurelius nahm er war, der grinsend aus seinem Fenster sah und einen Arm um Wilma legte, ein großes Netz Rosenkohl in der Hand.
Seine innere Stimme war verstummt, er dachte an gar nichts.
Alles, was in diesem Moment zählte, war sie.



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Wahnsinn, ich bin tatsächlich schon am Ende^^
Ehrlich gesagt fällt es mir wirklich schwer, mich von Aurelius, Sergej & Co. zu trennen - vielleicht werde ja irgendwann eine Fortsetzung schreiben, wer weiß...
Vielen, vielen Dank an alle Leser ;)





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