Wunderschön !? - Teil 11

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 13.05.2011


Sergej starrte in den Spiegel. Sein Spiegelbild sah gar nicht gut aus. Rote Nase, gräuliche Hautfarbe…
Das Spiegelbild nießte ihn an. Unglaublich, dass er es geschafft hatte, die Krankenschwester davon zu überzeugen, wieder zur Schule gehen zu können.
„Hey. Seh gefälligst nicht so krank aus!“, befahl er der Person im Spiegel.
„Jaja, so fängt es an und Zack! bist du irre…“, hörte er eine Stimme hinter sich sagen. Aurelius. Scheinbar sprach er wieder mit ihm.
„Das musst du gerade sagen.“, konterte Sergej heißer.
„‘Wir brauchen dringend einige Verrückte. Guckt euch an, wo uns die Normalen hingebracht haben.‘ – sagt Bernhard Shaw.“
„Ich find’s gut, dass du wieder ‚normal verrückt‘ bist.“, hustete Sergej.
Anstatt des Kaffees trank er zum Frühstück einen Kräutertee. Was für ihn schon fast eine Qual war. Trotzdem ging es ihm danach nicht viel besser.
„Warum bleibst du nicht einfach im Bett?“, fragte Frederick. „Du hättest die einmalige Chance den ganzen Tag durchzuschlafen.“
„Ich muss meinen Notendurchschnitt halten für mein Stipendium und dafür darf ich nichts verpassen.“ Lustlos kaute Sergej auf seinem Müsli.
„Du glaubst doch selbst nicht, dass es auch die paar Tage ankommt.“
Sergej antwortete nicht. Er würde Frederick nicht erzählen, worum es ihm eigentlich ging.
Nicht nur, dass er Josephine wiedersehen wollte, er hatte irgendwie auch eine Art Pflicht, sie vor solchen wie Anna zu beschützen. Wenn er es nicht tat, das wusste er, würde Anna wieder fahren. Schließlich gab es im Moment nichts, was sie an diesem Ort hielt.
Tatsächlich brachte er die Kraft auf, sich zum Klassenzimmer zu schleppen.
Er traf Josi vor dem Unterricht im Gang. Josephine war nicht in seine, sondern in die Parallelklasse gekommen.
„Bist du krank?“, fragte sie besorgt, als sie ihn sah. Verdammt, es war doch aufgefallen!
„Nein. Mir geht’s prima!“, log Sergej, um gleich darauf einen Niesanfall zu bekommen. Grimmig wühlte er nach einem Taschentuch. ‚Verdammt, Poljakow. Du solltest mal an deiner Glaubwürdigkeit arbeiten.‘


-


Aurelius beobachtete die einzelnen Regentropfen. Sah die kreisförmigen Muster auf den Pfützen, wie das Wasser sich in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen sammelte.
Er stand mitten in den Regen und ließ sich nass werden. Er atmete die saubere Luft ein.
Wie perfekt der Regen zu seiner Stimmung passte.
„Was machst du hier draußen?“, fragte Wilma. „Es ist schon dunkel.“
Aurelius antwortete nicht. Die Regentropfen, die ihm über sein Gesicht liefen, hätten Tränen sein können. Aber Aurelius weinte nicht, er konnte es nicht.
„Was ist los?“, wollte Wilma wissen. „Warum sagst du denn nichts?“
Aurelius keuchte. Er setzte sich einfach auf den Boden.
„Was ist denn passiert? Ist irgendetwas mit deinem Großvater, hat er angerufen?“, fragte Wilma, die vor ihm in die Hocke gegangen war.
„Der ruft heute nicht an. Bitte! Es geht nicht. Ich will allein sein.“
Sie nickte. „Versprich mir, dass du bald ins Haus gehst. Und mach keinen Mist.“
„Danke.“
Und Wilma ging.

-
Sergej saß mit Josephine im Aufenthaltsraum der Mädchen. Zum Glück hatte sie in Biologie einiges nachzuholen, und er, Sergej, war ja ihr Pate. Darum hatte er von Herrn Girschner sogar eine Sondergenehmigung bekommen, sich nach dem Abendbrot im Mädchenflügel aufzuhalten.
Wahrscheinlich war der wahre Grund für diese Sondergenehmigung aber eher, dass sich Josi schnell eingewöhnen sollte.
„Ich kann schon nicht mehr denken. Lassen wir Bio für heute?“, stöhnte Sergej.
„Ja, bitte.“
Sie überschlug die Beine unter ihrem langen Wollrock und rückte ihre Brille zurecht.
„Also, Patenkind… Wie geht’s dir denn bis jetzt so?“, erkundigte sich Sergej scherzhaft.
„Eigentlich ganz gut. Aber diese Anna, auf meinem Zimmer. Sie hat nur im Kopf, mich fertig zu machen. Andauernd muss ich mir ihre blöden Sprüche anhören.“
„Was sagt sie denn?“ Verdammt, das war die falsche Frage gewesen. Besser wäre gewesen, er hätte Josephine gar nicht erst darauf angesprochen.
„Ach… Sie reibt mir immer unter die Nase, dass sie viel besser ist als ich. Sie hat ja recht, aber muss sie es mir immer wieder vorhalten?“, regte sich Josephine auf.
Sergej unterbrach sie: „Was hast du gesagt? Sie hat RECHT, mit dem, was sie sagt?“
„Naja, sie sieht schon besser aus und ist beliebter – was bedeutet, sie muss auch den besseren Charakter haben.“, sie redete sich in Rage. „Sie sagt, sie hat später die besseren Möglichkeiten, weil ihre Eltern ihr ein Studium an irgendeiner englischen Eliteschule bezahlen können, und sie sagt, dass ich später mittel- und arbeitslos sein werde und nie einen Mann finde.“
„Und du glaubst ihr das im Ernst?“
Er sah sie rot werden. Sie nickte.
„Also erstens sieht sie nicht besser aus. Würdest du morgens zwei Stunden mit schminken verbringen, könntest du aus dir genauso eine aufgetakelte Tussi machen, wie sie eine ist, aber wer will das schon? Beliebter ist sie nicht, in Wahrheit lässt sie sich über andere aus, weil sie darunter leidet, dass sie keine echten Freunde hat. Außerdem – halt! lass mich bitte ausreden – außerdem können ihr ihre Eltern zwar eine Elite-Uni bezahlen, aber selbst dafür braucht man ein gutes Abi und das bekommt man nur, wenn man in irgendeiner Weise Intelligenz besitzt. Und die hat sie, im Gegensatz zu dir, nicht. Du wirst mal einen guten Ehemann haben und sie wird allein sein weil irgendwann selbst der dümmste Trottel ihre Blödheit erkannt hat.“
Er staunte, wie er über das Mädchen sprach, das er vor kurzem noch so angehimmelt hatte. Und er schämte dafür, dass er einer der dummen Trottel gewesen war.
„Danke.“, sie versuchte ein Lächeln. „Ich bin echt froh, dich als Freund zu haben. Wir sind doch Freunde, oder?“
Sergej nickte. Sagen konnte er nichts, weil sie ihn so ansah. Wenn sie ihm nur irgendein Zeichen hätte geben können, ob sie ihn auf dieselbe Weise mochte, wie er sie…
Was war er eigentlich für ein Weichei? Wollte er wieder ein halbes Jahr rumsitzen und nichts tun? Das hier, war verdammt noch mal, wichtiger als die Schwärmerei für Anna. Er mochte Josephine wirklich.
‚Jetzt reiß dich mal zusammen.‘, dachte er bei sich. ‚Hör auf, sie so anzuglotzen!‘
„Was denkst du?“
„Wie bitte?“, nuschelte er.
„Naja, du hast gerade so nachdenklich in die Leere gestarrt… Ich habe mich gefragt, worüber du nachdenkst.“
Er musste aufs Ganze gehen.
‚Sag ihr endlich, was Sache ist. Sage: ‚Ich habe darüber nachgedacht, was du meinst, wenn du uns als Freunde bezeichnest. Ob du auch denkst, dass vielleicht mehr aus uns werden könnte‘ Na los, SAG ES ENDLICH!‘, befahl die Stimme in Sergejs Kopf.
„Äh, ich habe darüber nachgedacht, was du meinst, wenn du uns als –“
„Hallo. Josephine, ich hatte dich gesucht…“ WARUM? Warum stand ausgerechnet jetzt Wilma in der Tür?
„Du bist… Wilma, oder?“, sagte Josi.
„Genau. Ich bin hier wegen Aurelius. Er ist… total komisch und steht draußen im Hof im mitten Regen. Du kennst ihn wahrscheinlich besser als ich, ich weiß nicht so ganz, ob man sich Sorgen machen sollte.“, erklärte Wilma.
Josi runzelte die Stirn. „Wenn irgendwas mit Opa wäre, wüsste ich Bescheid. Ich würde jetzt eher nicht zu ihm gehen, ich denke mal, er braucht seine Ruhe.“
Wilma schien etwas beruhigter.
„Sag mal, läuft da was zwischen Aurelius und dir?“, fragte Sergej.
„Nein. Gar nichts. Wieso?“, fragte Wilma in einem beiläufigen Ton und verschwand. Sergej schüttelte den Kopf. Merkwürdige begegnung…
„Also, was ich dir vorhin sagen wollte…“, fing Sergej noch einmal an. „Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber als wir uns beim Frühlingsball zum ersten Mal gesehen haben…“
Sergej spürte sein Gesicht heiß werden. Hoffentlich war er nicht rot.
„Ich finde dich echt… Also… “
„Halt. Warte mal.“, unterbrach ihn Josephine abrupt. Dann sagte sie, mehr zu sich selbst: „ Welcher Tag ist heute? … Mist! Der Todestag seiner Eltern. Tut mir Leid Sergej, ich muss zu Aurelius.“ Damit stand sie auf und lief nach draußen. Sergej packte seine Sachen zusammen und ging ebenfalls. Er hatte es vermasselt. Mal wieder.
Er sah Aurelius an der Hauswand lehnen und Josephine neben ihm.
Das Bild ließ Sergej erschaudern. Er hatte einen Kloß im Hals.
„Komm.“, hörte er Josi sanft sagen. „Komm, Aurelius, hier ist es kalt und nass, wie gehen rein. Du solltest dich schlafen legen.“
Sergej öffnete die Eingangstür. Das hier ging ihn nichts an.
Später, als er im Bett lag und Fredericks Schnarchen lauschte, dachte er nicht an seine Mutter mit ihrem neuen Freund. Er dachte auch nicht daran, dass er es nicht geschafft hatte, vorhin im Aufenthaltsraum die Wahrheit zu sagen.
Er dachte an Aurelius und dass ihm Unrecht getan wurde. Niemand hatte ein Recht darauf, ihn als verrückt zu betiteln, wusste doch niemand wirklich über ihn Bescheid.
Er dachte an Josephine und ihre Minderwertigkeitskomplexe, die doch völlig unnötig waren. Und ihm wurde klar, dass alles um ihn herum, eine einzige Lüge war.
Einige belogen sich selbst, wie Josephine, und zwar so glaubhaft, dass sie es irgendwann für die Wahrheit hielten.
Einige belogen andere. Seine Mutter, mit ihrem Geschäftsessen. Wilma, die sagte, zwischen ihr und Aurelius wäre nichts.
Einige spielten die ganze Zeit Theater um ihr wahres „ich“ nicht zeigen zu müssen, wie Anna, die Tag für Tag andere niedermachte, um von sich selbst abzulenken.
Und wenige andere hatten sich von den Lügen ihrer Umwelt abgewandt und sich abgesondert. Aurelius war einer von ihnen.



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ja, der letzte Teil war bisschen kurz, darum jetzt gleich nochmal einer. Bitte kommentiert, damit ich weiß, wie ihr es findet! (Danke an Joko und Lala und alle anderen, die dies schon getan haben!)
lg - bis zum nächsten Teil...





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