Wunderschön !? - Teil 7

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 19.04.2011


Dieser Teil ist, sozusagen als Ausgleich zum letzten Mal, wieder etwas länger geworden...
Ich freue mich natürlich immer über Kommentare :)


Es war der Nachmittag des Balles. Während in den Gängen geschäftiges Treiben herrschte, saß Sergej am Fenster und starrte hinaus. Er war gespannt, seine Tanzpartnerin zu sehen, hatte er doch keine Ahnung, wie sie überhaupt aussah. Ihren Namen hatte er bereits erfahren, Josephine.
Jetzt hieß es nur noch warten. Seinen neuen Anzug hatte Sergej schon angezogen, er hatte ihn in den Ferien mit seiner Mutter secondhand gekauft. Der alte war ihm zu klein gewesen. Sergej war mittlerweile fast 1.90m groß; seine Mutter sagte oft, er habe die Größe von seinem Vater geerbt. Jetzt endlich fuhr ein Auto auf den Hof. Aurelius kam aus der Flügeltür des Mädchenflügels - was auch immer er dort gemacht hatte - ging auf die Fahrerin zu und reichte ihr die Hand, sie zog ihn zu sich herunter und umarmte ihn. Es musste seine Tante sein. Nun öffnete sich die Hintertür und Josephine stieg aus. Sergej konnte allerdings nicht viel erkennen, von hier oben sah er nur, dass sie eine lila Strickmütze trug und einen bunten Mantel.
Dann nämlich zeigte Aurelius nach oben in Richtung Sergejs Zimmer, und er konnte sich gerade noch rechtzeitig zu Boden werfen.
‚Hallo!?‘, sagte er zu sich, ‚warum habe ich nicht gewinkt oder ähnliches?‘
‚Na weil es peinlich wäre, wenn sie sieht, dass ich hier die ganze Zeit gewartet habe, um sie zu sehen.‘, beantwortete er sich seine Frage selbst.
„Freddie?“, Sergej ging hinüber zum Bett seines Zimmerpartners und schüttelte ihn. Frederick gab nur ein Murren von sich. Er hatte sich tatsächlich noch einmal schlafen gelegt. Wenigstens hatte er sein Jackett über den Stuhl gehängt, um Knitterfalten zu verhindern.
„Frederick!“, versuchte es Sergej zum zweiten Mal.
„Was‘n los?“, verschlafen sah Frederick Sergej an.
„Erstens beginnt der Ball in einer halben Stunde und zweitens wolltest du mir eine Krawatte leihen!“, erklärte Sergej.
„Oh, stimmt.“, erinnerte sich Frederick und wälzte sich aus dem Bett. „Also, ich habe eine rote, eine blaue und eine graue. Die rote ziehe ich selbst an. Welche Farbe hat denn das Kleid von dieser Cousine?“
„Keine Ahnung, ist ja egal.“
„Nein, eben nicht. Wenn du jetzt die blaue nimmst und sie hat ein rotes oder violettes Kleid an, beißt sich das!“, erklärte Frederick in einem Tonfall, als spräche er mit einem Trottel. Dann verließ er das Zimmer.
„Wohin gehst du denn?“, rief Sergej ihm hinterher.
„Muss noch was klären!“, antwortete Frederick. Kopfschüttelnd band sich Sergej die blaue Krawatte um, mit dem „doppelten Windsor“, einem einfachen, aber professionell aussehenden Knoten, wie er fand.
‚Was macht es schon aus, wenn der Schlips nicht zum Kleid passt?‘, dachte er sich, gerade in dem Moment, als Frederick wieder zur Tür hereinkam.
„Ist ok, du kannst die Blaue anziehen. Ich habe gerade bei Aurelius durchs Schlüsselloch gesehen, sie trägt ein dunkelblaues oder schwarzes Kleid. So genau konnte ich es nicht erkennen, ich stand ja nur kurz vor der Tür und hab sie nur von hinten gesehen.“
„Aha.“, erwiderte Sergej nur, was brachte es auch, sich jetzt aufzuregen. „Und von hinten, sah sie da gut aus?“
„Naja. Sie ist ein ganzes Stück kleiner als du, aber das solltest du ja gewohnt sein. Und dir kommt es ja auch nicht nur aufs Tanzen an.“
„Und? Weiter? Du klingst so komisch.“, bohrte Sergej nach.
„Wenn du so fragst… Also, mit Anna hat sie nicht viel gemeinsam. So von hinten, meine ich. Nicht nur die Größe… Sie hatte so eine Strickjacke an - garantiert selbst gestrickt, und, naja, für mich sah sie ein bisschen nach Öko-Tussi aus. Sorry. Aber erstens hab‘ ich sie ja nur von hinten gesehen und zweitens ist das ja nicht entscheidend, oder?“
„Nein, Unsinn.“, sagte Sergej ehrlich. „Solange sie mich nicht komplett blamiert... - War ihr Ballkleid auch selbst gestrickt?“
„Ich glaub nicht.“, meinte Frederick unsicher und grinste hämisch. Na Klasse. Sergej stöhnte innerlich auf - das konnte ja heiter werden.
„Ohhhhh“, machte Frederick auf einmal hektisch und ruderte mit den Armen in der Luft. „Ohhhhh…. Schon so spät! Ich muss los - Halt! Meine Krawatte.- Jetzt bekomme ich schon wieder den dummen Knoten nicht hin. Poljakow!“
„Ganz ruhig, Freddi. Und nenn‘ mich nicht beim Nachnamen. Ich mache dir jetzt einen Knoten in die Krawatte und dann gehst du deine Tanzpartnerin abholen. Du hast doch noch fünf Minuten.“, beruhigte ihn Sergej.
„Oh, stimmt. Meine Uhr geht vor!“, sagte Frederick erleichtert und drehte am Rädchen seiner Armbanduhr. Er war ziemlich aufgeregt, denn er sollte den Ball miteröffnen. Aus jeder Jahrgangsstufe wurde ein Tanzpaar ausgewählt und Frederick sollte zusammen mit seiner Tanzpartnerin die zehnte Klasse vertreten.


-


„Mein Freund Sergej holt dich dann gleich ab. Macht es dir was aus, wenn ich schon mal losgehe?“, fragte Aurelius Josephine. Sie schüttelte mit dem Kopf.
„Geh ruhig.“
Aurelius überprüfte noch einmal seinen Hemdkragen verließ das Zimmer. „Hoffentlich denkt dieser Trottel Sergej an seine Verabredung…“, dachte er bei sich.
Dann war er im Mädchenflügel vor Wilmas Tür angekommen. Er stellte sich gerade hin, räusperte sich und klopfte.
„Moment! Ich komme gleich.“, rief Wilma aus dem Zimmer.
Aurelius lehnte sich an die Wand und wartete.
Endlich öffnete sich die Tür und Wilma stand vor ihm.
„Wow.“, machte Aurelius und Wilma lächelte. Das hatte gereicht. Ein einzelnes Wort, ein einzelner Ausruf vielmehr, über den er gar nicht wirklich nachgedacht hatte, hatte ihr ein Lächeln auf die Lippen gezaubert. Er reichte ihr den Arm und ging gemeinsam mit ihr über den Hof.
„Hör mal, ich weiß, du hast vielleicht gedacht, ich bringe dir Blumen mit, eine Rose oder so.“, fing Aurelius an. „Aber so jemand bin ich nicht. Ich finde die Vorstellung, ein Lebewesen in der Mitte durchzuschneiden und dann den abgeschnittenen Teil in ein Wasserglas zu stellen und zuzusehen, wie es stirbt, verwelkt oder Vertrocknet, nicht besonders schön. Darum.“
Sie nickte und lächelte.
„Du bist irgendwie anders… Versteh‘ mich nicht falsch, ich mag das.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen gab ihm einen Kuss.
Und in diesem Moment wurde Aurelius eines klar: Eine Beziehung war für ihn nur mit einem Mädchen möglich, welches seine Eigenheiten akzeptierte, mit einem Mädchen, bei dem er sich nicht verstellen musste. Wilma war so jemand. Er hatte sich in sie verliebt. Am liebsten wollte er es hinausschreien, es jedem mitteilen, aber er wäre nicht er selbst gewesen, wenn er nicht schweigend in seinem üblichen, geraden Gang weitergelaufen wäre, als wäre nichts gewesen.


-


Als Frederick sich auf den Weg gemacht hatte, verließ auch Sergej das Zimmer.
Zaghaft klopfte er an Aurelius‘ Zimmertür.
„Bitte lass das Kleid nicht gestrickt sein, bitte, bitte, bitte!“, murmelte er vor sich hin. Ein Mädchen, Josephine, öffnete die Tür.
Was Sergej sofort froh stimmte: ihr schwarzes, knielanges Kleid war nicht gestrickt. Er lächelte sie an. Gott sei Dank! Auch die Strickjacke, von der Frederick gesprochen hatte, hatte sie nicht bei sich.
„Hallo.“, sagte das Mädchen unsicher. Sie war das genaue Gegenteil von Anna.
Anna war groß und hatte braunes, glattes Haar. Josephine war blond gelockt und mindestens dreißig Zentimeter kleiner als Sergej, doch auch sie war schlank. Josephine trug eine große Brille mit schwarzem Plastikgestell, die Anna vermutlich weggeschmissen hätte, hätte sie eine Brille gebraucht. Trotzdem war sie irgendwie… bezaubernd. Sergej rügte sich in Gedanken für dieses kitschige Wort, aber ihm fiel kein besseres ein.
„Tag, ich bin Sergej.“, stellte sich Sergej vor.
„Josephine, oder Josi, oder Jojo, wie du willst.“, lächelte sie.
„Wollen wir?“, fragte Sergej.
Sie gingen gemeinsam über den Hof und Sergej nutzte die Gelegenheit, um sine Begleitung weiter zu mustern. Sie war hübsch, nein, sie war schön. Ihr Lächeln war echt und nicht so gekünstelt wie das von Anna. Sie hatte eine gerade Nase und strahlend blaue Augen, nur die Augen waren geschminkt. Josephine war natürlich schön, war nicht wie Anna, die jeden Tag nur mit wahrscheinlich drei Kilo Schminke im Gesicht das Haus verließ.
Und je länger Sergej Josephine ansah, desto unbegreiflicher wurde es für ihn, dass er nicht eher erkannt hatte, was wirklich hinter Annas Fassade steckte.
„Warum guckst du so?“, fragte Josephine.
„Was?“, schreckte Sergej aus seinen Gedanken auf, „Ähhh… Ich überlege nur, ob du Ähnlichkeiten - mit Aurelius hast.“
„Ach so. Meine Mutter hat mal gesagt, wie hätten den gleichen Mund - aber da waren wir noch klein.“
Dann betraten sie den Speisesaal der Mädchen, indem der Ball stattfinden sollte. Frederick hatte den Eröffnungstanz wohl schon hinter sich gebracht, denn die Tanzfläche war gähnend leer.
„So, Jungs und Mädels!“, schallte Herrn Girschners Stimme durchs Mikrophon. „Damit hier mal ein bisschen Stimmung in die Bude kommt, will ich beim nächsten Tanz alle tanzen sehen! Alle – und wenn ich euch persönlich auf die Tanzfläche schubse. Mal überlegen, was habt ihr denn letztens so schön geübt…Quickstep!“
Josis Augen weiteten sich ein wenig. Auch Sergej fühlte sich nicht ganz wohl.
„Ich kann keinen Quickstep.“, gestand er und zog die Schultern hoch.
„Ehrlich gesagt, ich auch nicht.“, sagte sie.
„Also gut. Ich schlage vor, wir sehen uns die ersten Takte an, was die anderen machen, und machen es dann nach.“, beschloss Sergej.
Die Musik setzte ein, die ersten begannen zu tanzen, diesmal war die Stimme der Mädchenbetreuerin zu hören: „Hophop, alle sollen tanzen!“
Entschlossen griff Sergej nach Josephines Hand, legte den anderen Arm um ihre Hüfte und begann zu tanzen, irgendwie. Am Anfang trat ihm seine Tanzpartnerin ein paar Mal auf die Füße und er führte sie in einem irren Tempo gegen die Wand, aber dann ging es einigermaßen.
„Wie haben wir das denn gemacht?“, fragte sie lachend und verwundert, als der Tanz vorbei war.
„Wir haben keinen Quickstep, sondern schnellen Foxtrott getanzt.“, erklärte Sergej. Josephine dachte einen Moment nach.
„Stimmt!“, sagte sie dann. „Ist mir gar nicht aufgefallen.“
„Dumm kann man sein, man muss sich nur zu helfen wissen!“, lachte Sergej.
„Dann machen wir das noch mal.“, schlug sie vor. Der nächste Tanz war glücklicherweise ein Walzer, also recht einfach. Aber Sergej war nicht er beste Tänzer, Josephine hatte am Hinterkopf keine Augen - und so passierte es, dass sie gegen Anna stießen, die gerade dabei war, einem muskulösen Zwölftklässler ihre Zunge in den Hals zu schieben.
„Hey! - Uhhh, wer ist das denn? Sergej.“, stellte sie mit einem angewiderten Blick fest. „Na, dass du so eine abbekommst hätte ich mir ja denken können. Lass mich raten…“, sie richtete sich damit an Josephine, „Du bist verklemmt, altmodisch und vermutlich obdachlos oder so. Modebewusstsein hast du auch nicht. Hast du das vom Müll?“
Anna deutete auf das schwarze Kleid und anschließend auf die Brille. Da Sergej immer noch Josephines Hand hielt, sie waren fast noch in Tanzposition, spürte er sie zittern.
„Ach lass mich doch in Ruhe.“, entgegnete Josephine, allerdings nicht sehr überzeugend.
„Anna, halt die Klappe, oder…“, mischte sich Sergej ein.
„Oder was? Holt ihr dann eure verarmten Pennerväter aus den Pappkartons, damit sie mich mit ihren Bierflaschen verprüühügeln?“, gab Anna zurück. Ihr neuer Freund lachte dämlich und das schien Anna zu genießen.
„Weißt du…“, sagte Sergej beherrscht. „es gibt Leute, die regeln nicht alles über Einfluss und Geld der Eltern und übrigens: Mein Vater ist tot und für die Pennerbemerkung würde ICH dich verprügeln, wenn ich nicht genug Anstand hätte und wenn du kein Mädchen wärst.“
Sergej zog Josephine nach draußen und atmete erst einmal tief durch.
„Danke.“, sagte sie leise.
„Wofür denn?“, entgegnete Sergej. Seine Wut war immer noch nicht abgeflaut und seine Hände waren zu Fäusten geballt.
„Du hast mir geholfen.“, sie setzte sich auf die Bank vor dem Gebäude, irgendwie sah sie traurig aus.
„Du musst dir keine Gedanken machen. Sie ist einfach blöd und oberflächlich.“, jetzt kochte der ganze Zorn in ihm auf. „Und mein Vater war, verdammt noch mal, KEIN Penner!!!“, brüllte er und trat mit voller Wucht gegen die Hauswand.
Dann besann er sich. Sein Fuß pochte so sehr, dass es ihm fast Tränen in die Augen trieb.
„Entschuldigung.“
„Ich weiß nicht, ob ich wirklich auf diese Schule gehen will. Am Ende werde ich hier genauso fertig gemacht, wie in meiner alten Schule, also, was soll ich noch hier?“, fragte sie unglücklich.
„Hier hast du Aurelius und bestimmt findest du noch einige andere Freunde. Außerdem bin ich ja auch noch da, wenn du mich in deinem Freundeskreis willst. Willst du dich wirklich wegen EINER dummen Kuh einschüchtern lassen?!“
„Nein.“
„Na siehst du. Und den Abend lassen wir uns auch nicht verderben. Wir gehen wieder tanzen.“, entschlossen schob er sie vorwärts in Richtung Haus und dann auf die Tanzfläche.






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