Wunderschön !? - Teil 4

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 22.03.2011


Sergej saß an seinem Schreibtisch und las, als Frederick mit seinen Eltern ins Zimmer kam. Fredericks Vater streckte die Hand aus und sagte: „Guten Tag, Sergio.“
„Er heißt Sergej, Papa.“, berichtigte ihn Frederick.
„Wir möchten mit unserem Sohn auswärts zu Mittag essen. Bratwurst ist ja auf die Dauer nicht sehr gesund und schmackhaft eigentlich auch nicht. Vielleicht hättest du Interesse daran, uns zu begleiten.“, machte sein Vater weiter.
„Nein danke.“, lehnte Sergej ab. Er wusste, dass Fredericks Eltern ihn nur Frederick zuliebe gefragt hatten und eigentlich keinen Wert auf seine Anwesenheit legten. Er würde bei Aurelius vorbeisehen, dem ging es sicher wirklich mies, nachdem er auch noch die Eröffnung geleitet hatte. Sergej hatte zwar nicht zugesehen, aber er wusste ja ungefähr wie es ablief. Es war sicher nicht besonders schön gewesen, für Aurelius, alle Eltern willkommen zu heißen, während für ihn niemand gekommen war. Und jetzt muss er sich noch mit der Familie dieses Tim herumärgern, dachte sich Sergej.
Er hatte sich nicht geirrt. Aurelius saß auf seinem Bett, auf dem Schoß hatte er seinen Laptop und machte ein entnervtes Gesicht. Auf der anderen Seite des Zimmers stand der kleine Sechstklässer, zusammen mit seinen Eltern, seiner Oma und seinen zwei kleinen Schwestern, alle redeten laut durcheinander. Das dritte Bett war frei. Sergej wunderte, dass Aurelius bisher allein in einem Dreibettzimmer geschlafen hatte aber soviel er wusste, waren bis vor einem halben Jahr zwei Zwölftklässler seine Zimmergenossen gewesen, und nachdem diese Abitur gemacht hatten, war bis jetzt eben niemand mehr dort eingezogen.
„Hi.“, sagte Sergej. Die Familie des Kleinen nahm nicht einmal Notiz von ihm.
„Hallo.“, stöhnte Aurelius.
„Was machst du da?“
„Ich will mit meinem Opa video-chatten. Aber hier ist es eindeutig zu laut.“, meckerte Aurelius.
„Das kann er? Ist ja cool. Du kannst in mein Zimmer gehen, wenn du willst. Frederick ist mit seinen Eltern weggegangen.“, schlug Sergej vor.
„Danke.“, sagte Aurelius, hielt den Laptop in die Höhe und schrie in das Mikrophon: „Opa, ich gehe wo anders hin! Hier ist es so laut!“
„Alles klar, Junge. Mach das. Ich warte.“, sagte der alte Herr auf dem Bildschirm und grinste in die Kamera.

Sergej begleitete Aurelius in sein Zimmer und sagte dann: „Ich geh mal… Äh, zur Tombola.“
„Ne, kannst ruhig da bleiben, ist ja dein Zimmer.“, meinte Aurelius.
„Ich komme in einer viertel Stunde.“, sagte Sergej. Er wollte Aurelius lieber seine Ruhe lassen. Erst lief er im Aufenthaltsraum hin und her, dann ging er über den verschneiten Hof (in seinen Hausschuhen) zum Schulgebäue. Dort sah er Anna und ihre Eltern. Er presste sich mit dem Rücken an die Wand und beobachtete die drei. Anna trug ein blaues Wollkleid und eine Flechtfrisur. Ihre Mutter, der sie sehr ähnlich sah, hielt einen braunen Pelzmantel in der Hand, der sicher sündhaft teuer gewesen war. Ihre Stöckelschuhe klackten auf dem Parkett und sie hatte sogar Handschuhe an. Klischeehafter ging es nicht mehr. Ihr Vater, Freiherr von „Wie-auch-immer“-Stein, war, Sergejs Meinung nach, relativ alt. Sein Haar war schon richtig grau und faltig war er auch. Er war vielleicht so alt, wie Sergejs Oma, und die war schon siebenundsechzig.
Obwohl das Sergej eigentlich egal sein konnte. Ihn interessierte nur Anna, und nicht ihr Vater.
Anna, die wie immer wunderschön aussah. Aber er wusste genau, dass sie nichts von ihm wollte. Sie hatte in dem halben Jahr, in dem sie auf dem Goetheinternat war, einige feste Freunde gehabt, und das waren immer irgendwelche reichen Typen gewesen, oder sie waren drei Jahre älter und von allen Mädchen umschwärmt. Sergej war keines von beidem. Trotzdem. Er musste es zumindest probieren, mit der Einladung für den Frühlingsball. Was konnte er schon groß verlieren?
Sergej kaufte sich eine angebrannte Bratwurst und ging zurück zum Internat.
In seinem Zimmer war Aurelius gerade dabei, sich von seinem Großvater zu verabschieden.
„Hey, Opa, guck mal, das ist Sergej. Ich bin in seinem Zimmer.“, stellte Aurelius ihn vor.
„Hallo Sergej!“, rief der Opa laut, er glaubte wohl, man könne ihn sonst nicht verstehen. „Ich muss jetzt aber Schluss machen, Junge, ich habe noch einen Termin im Krankenhaus. Und nächstes Wochenende kommst du nach Hause, ich habe das Zugticket schon gekauft.“
„Wirklich?“, fragte Aurelius. „Danke! War das nicht zu teuer?“
„Ach, das ging schon. Ich habe so eine Art Sonderangebot bekommen. Ich freu‘ mich auf dich!“ Dann war das Bild weg.
„Hey, ich fahr‘ nach Hause!“, rief Aurelius fröhlich.
***
Am Sonntag Nachmittag gab es für Sergej einen Lichtblick. Nach dem Mittagessen mussten alle mit helfen, die Stände abzubauen und die alten Pappbecher einzusammeln. Dafür wurden sie in Gruppen eingeteilt. Sergej war für die Reinigung des Schulhofs verantwortlich, zusammen mit Frederick und Anna. Das war so ziemlich das beste, was ihm hätte passieren können.
„Hey, ist das nicht super? Alter, das wird echt genial. Ich kann dann ja gehen, oder? Dann kannst du die traute Zweisamkeit mit deiner Herzdame nutzen um sie zum Ball einzuladen.“, schlug Frederick vor.
„Spinnst du? Ich frag Anna heute, das steht fest, aber deswegen übernehme ich doch nicht die Arbeit für dich.“, wies Sergej den Vorschlag zurück.
„Na gut. So kann ich im Notfall wenigstens nachhelfen. Bis zum Herbstball höre ich mir dein Gejammer nämlich nicht an.“
„Ne, lass mich bloß mit deinen Ideen in Ruhe.“, wehrte Sergej ab.
***
Am Nachmittag stand Sergej mit Frederick und Anna auf dem Hof und sammelte mit den „Müllgreifern“, die sie sich vom Hausmeister besorgt hatte, Papierschnipsel in graue Plastikeimer.
„Iiiieh, ist das ekelhaft.“, beschwerte sich Anna irgendwann. „Frederick, was sagen eigentlich deine Eltern dazu, dass du hier putzen musst? Also, wenn mein Vater das wüsste, würde der Herr Direktor aber etwas zu hören bekommen. Schließlich zahlen unsere Eltern mit den Schulgeldern auch die Kosten fürs Reinigungspersonal!“
Die Art, wie sie es sagte klang etwas überheblich. Aber vielleicht hatte sie es ja gar nicht so gemeint, redete sich Sergej ein.
„Also, meine Eltern finden es bestimmt gut, dass ich hier fürs spätere Leben lerne. Da räumt ja auch keiner alles hinterher.“, gab Frederick zurück.
„Also, den Spruch von wegen ‚fürs Leben lernen‘ kannst du höchstens vielleicht des Stipendiums- Schülern erzählen. Ich habe später für solche Aufgaben ganz sicher Personal.“, sagte sie.
Gut, das war jetzt wirklich überheblich, dachte sich Sergej. Aber vielleicht hatte sie einfach nur einen wirklich schlechten Tag und bereut eigentlich, das gesagt zu haben.
Es verging eine Stunde und nach und nach wurde ihm Anna, für die er so lange geschwärmt hatte, immer unsympathischer, zumal sie ihn völlig ignorierte. Sergej musste die Sache mit dem Frühlingsball wirklich noch einmal überdenken.

-

Aurelius war glücklich. Er genoss dieses Gefühl und versuchte, es in sich aufzusaugen, und es dann wieder hervorzuholen, wenn er nicht glücklich war. Er lag auf dem Rücken in seinem Bett und hatte die Beine überschlagen. Er würde in der darauf folgenden Woche nach Hause fahren und außerdem mit Wilma zum Ball gehen. Am liebsten würde er jetzt gleich zu ihr gehen, um sich mit ihr zu unterhalten. Es war erst 18.00Uhr, also konnte er den Mädchenflügel noch betreten. Hmmm… Er brauchte einen Vorwand. Dass er für das Lyrikprojekt üben wollte, konnte er jetzt nicht mehr sagen, denn das hatten sie ja abgeschlossen. Und plötzlich fiel ihm etwas ein. Mit schnellem Schritt lief er über den Hof zum Mädchenflügel. Wilmas Zimmernachbarin, Amelie, kam ihm entgegen. Sie musste ja mit aufräumen helfen - im Gegensatz zu Wilma und Aurelius, die mit der Leitung der Eröffnungsveranstaltung ihren Teil der Arbeit geleistet hatten. Perfekt, so konnte er ungestört mit Wilma sprechen.
Er klopfte an die Tür und Wilma öffnete. Die roten Locken hatte sie diesmal mit einem blauen Haarband zurückgebunden.
“Hallo.”, sagte Aurelius nur. Als sie ihn fragend ansah beeilte er sich zu erklären: “Ich habe gestern meinen Zettel in der Aula vergessen, mit dem Gedicht. Hast du ihn vielleicht mitgenommen?”
“Ja!”, fiel Wilma ein. “Ich muss ihn nur kurz suchen. Komm doch rein.”
Aurelius setzte sich auf Wilmas Bettkante und sah ihr zu, wie sie in den Schubladen ihres Schreibtisches kramte. Was hatte sie vor? Sie konnte den Zettel doch gar nicht an sich genommen haben - es gab schließlich gar keinen Zettel. Aurelius konnte das Gedicht auswendig - schon immer!
‘Diese Frauen…’, dachte er bei sich. Sein Opa hatte ihn ja gewarnt: “Junge”, hatte er gesagt, “Junge, so ein Weibsbild überrascht dich immer wieder. Du weißt nie, woran du bist.”


-


Als es gegen 18.00 Uhr dunkel wurde, sagte Frederick:
„So, also ich habe genug für heute. Der Hausmeister hat gesagt, wir sollen das Zeug einfach in den Schuppen stellen. Was haltet ihr davon, wenn wir aufhören?“
Sergej und Anna waren einverstanden. Direkt an der Türschwelle des Geräteschuppens blieb Frederick plötzlich stehen und drückte Anna seinen Eimer in die Hand. Fragend sah Sergej ihn an.
„Ich habe wirklich extreme Platzangst. In so einem Schuppen bekomme ich Atemnot und ich habe mein Asthmaspray nicht dabei. Könnt ihr einfach meinen Eimer mit in den Schuppen stellen? Der kommt dort hinter, in die Ecke hinter den Rasenmäher.“
Sergej war sich ganz sicher, dass Frederick kein Asthma hatte und schon gar keine Platzangst, sagte jedoch nichts. Als er sich gerade von Anna den dritten Eimer reichen lies, hörte er auf einmal die Tür ins Schloss fallen.
Sofort war Sergej über den Rasenmäher gesprungen und rüttelte an der Klinke. Leider lies sich die Tür nur von außen öffnen.
„FREDERICK, MACH DIE TÜR WIEDER AUF!“, brüllte er.
„In drei Stunden.“, kam die Antwort zurück, dann entfernten sich die Schritte.
„Na toll.“, schimpfte Sergej.
„Ach, das ist doch kein Problem. Ich habe mein Handy dabei. Ist zwar nicht mehr viel drauf, aber eine SMS kann ich bestimmt noch schicken. Ich habe nämlich ein neues I-phone bekommen und da brauche ich ja mein altes Handy nicht noch mal aufzuladen.“, erklärte Anna.
„Aha. Dann versuch das mit der SMS mal.“, brummte Sergej.
„OK. Hab sie verschickt. Ich hatte gerade noch genug Guthaben.“
„An wen denn?“, erkundigte sich Sergej.
„Na, an Frederick natürlich: ‚Frederick, bitte hol uns hier raus.‘“, sagte Anna.
„Frederick? Was soll das denn? Der hat uns doch hier eingesperrt!“, rief Sergej aus.
In diesem Moment ertönte ein Piepton. Sergej riss Anna das Handy aus der Hand.
„Na klar hol ich euch raus: 21.00 Uhr. Lg, Frederick.“, stand auf dem Display. Das konnte doch nicht wahr sein. Anna entsprach überhaupt nicht dem Bild, welches Sergej von ihr gehabt hatte: Sie war nicht nur arrogant, sondern auch noch blöd!
„Warum macht der denn so was?“, empörte sich Anna.
„Weil er denkt, ich nutze die Gelegenheit, dich zum Frühlingsball einzuladen - halt, sag nichts. Ich weiß, du gehst schon mit jemand anderem hin oder du hast keine Zeit oder was auch immer. Das mit dem Ball war auch nur ein Scherz, um Frederick reinzulegen. Also, in Wirklichkeit wollte ich dich nie dazu einladen.“, log Frederick. Denn jetzt, wo er Anna richtig kennen gelernt hat, wollte er das wirklich nicht mehr.
„Da bin ich aber froh. Ehrlich gesagt habe ich keinen anderen Tanzpartner oder so, aber wenn ich mit dir auf den Ball gehen würde, wäre das echt schlecht für mein Image. Und außerdem fragt bestimmt noch jemand besseres.“, meinte Anna abschätzend.
So eine direkte Absage hätte Sergej nicht erwartet. Was Anna sagte, verletzte Sergej nicht; er fühlte sich bestätigt. Anna war oberflächlich und ihr Vater hatte den Platz auf dieser Schule ganz offensichtlich erkauft - allein hätte sie es nicht geschafft. Mit ihr drei Stunden in einem Raum verbringen zu müssen, war ein wahrer Alptraum. Schlimmer konnte es nicht mehr werden.
Dachte er. Denn nachdem er Anna eine halbe Stunde schweigend gegenübergesessen hatte, wurde ihm klar, dass es viel schlimmer werden konnte...






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