Wunderschön !?

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 16.03.2011


Sergej Poljakow holte das letzte Kleidungsstück aus seiner Reisetasche und legte es in seinen Schrank. Er stand auf, lief zum Fenster, öffnete es und ein kalter Windstoß blies ihm ins Gesicht, fuhr durch sein dunkles Haar und trieb ihm Tränen in die blauen Augen. Unten auf dem gepflasterten Hof vor dem Internatsgebäude herrschte bereits geschäftiges Treiben. Gerade fuhr ein hellblaues Auto, ein “uralter” Audi, auf den Hof und ein älterer Herr mit schlohweißem, wirren Haar stieg aus. Die Beifahrertür öffnete sich und Aurelius, ein Junge aus Sergejs Klasse, kletterte aus dem Wagen.. Aurelius hatte genau wie Sergej ein Stipendium für das Goetheinternat bekommen, auf Grund eines Einserdurchschnittes.
Wenn Sergej ehrlich war, fand er Aurelius etwas verrückt. Schon allein sein Kleidungsstil. Dieser Aurelius hatte sicher über 20 verschiedene karierte Hemden im Schrank, schließlich hatte Sergej den Klassenkameraden noch nie ohne ein solches, für ihn typisches Kleidungsstück erlebt. Wahrscheinlich hatten ihm seine Eltern schon, gleich nach dem er auf die Welt gekommen war, ein kariertes Hemd angezogen. Aurelius setzte gerade seinen Riesenrucksack auf den Rücken und umarmte den alten Mann, dann ging er, ohne sich mit den anderen Ankömmlingen zu beschäftigen, durch die Tür ins Internatsgebäude.
Der Mann stieg wieder ins Auto und fast zeitgleich fuhr ein weiterer Wagen auf den Hof. Ein schwarzer Mercedes, der so glänzte, als wäre er gerade aus der Autowäsche gekommen. Die Scheiben waren sogar verspiegelt. Das war Frederick, Sergejs Mitbewohner. Sein Vater war irgend so ein hohes Tier beim Geheimdienst und seine Eltern ziemlich versnobt. Aber Frederick war total in Ordnung.
“Hey, Alter! Wie waren die Winterferien?”, erkundigte sich Frederick, als er zu Sergej ins Zimmer kam, den braunen Reisekoffer lässig in der Hand.
“Naja. Ich war ein paar Tage bei meiner Oma in Kiew. Ansonsten war ich zu Hause, da war nicht so viel los.”, antwortete Sergej.
“Ich denke mal, deine Ferien waren immer noch besser als meine. Zwei Wochen mit meinen Eltern in so einer einsamen Norwegerhütte. Kein Mensch weit und breit - außer so einem Bodyguard von meinem Vater… - der hat in der Blockhütte neben unserer gewohnt und ist dreimal täglich ums Haus geschlichen.”
“Das hat meine Oma auch gemacht, die hatte Angst, dass jemand ihren Gemüsebeet plündert.”, lachte Sergej und versuchte dabei, den misstrauischen Gesichtsausdruck seiner Großmutter zu imitieren.
“Oh, wir müssen uns beeilen, Belehrung vom Girschner in … genau null Minuten im Aufenthaltsraum.”, erschrak Frederick.
***
“So Jungs!”, begann Herr Girschner, der Hausvater seine Rede, kaum waren Frederick und Sergej in den Raum gestürzt. “Da jetzt auch Sergej und Frederick endlich da sind…”, an dieser Stelle ein strafender Blick in Richtung der beiden Genannten, “…kann ich mit dem, euch ja schon bekannten Text beginnen. Was wisst ihr denn noch?”
Ein Junge aus der Zwölften hob die Hand und begann gelangweit mit monotoner Stimme zu sprechen: “Für Jungen ist der Mädchenflügel nach 19.00Uhr tabu, andersrum genauso. Wer bei Sie-wissen-schon-was mit einem Mädchen erwischt wird, bekommt einen Teilverweis, wer Alkohol trinkt zwei Wochen Strafarbeit und um 21.30 Uhr sind alle auf den Zimmern, 5.-8. Klasse müssen schon ‘ne halbe Stunde vorher im Bett sein.”
“Sehr gut, muss ich schon sagen. Ich bin schwer beeindruckt, Daniel.”, ein gefälliges Grinsen breitete sich auf dem runden Gesicht de Hausvaters aus. “Noch was? Von unseren beiden ‘Zu-Spät-Kommern’ vielleicht?”
“Ja, also, um halb sieben wecken Sie uns und dann gibt’s Morgenlauf und um viertel Acht Frühstück.”, versuchte es Sergej.
“Entschuldigung?”, meldete sich ein kleiner Junge zu Wort. Sergej hatte ihn noch nie gesehen: Er hatte längeres, blondes Haar und sah recht eingeschüchtert aus.
“Ja - Neuzugang, der nach den Winterferien kommt, was ist?” fragte Herr Girschner auf seine prüde Art und wischte sich mit dem Ärmel seines Pullis über seine Glatze.
“Äh, ich wollte fragen, was ist denn der Morgenlauf?”, fragte der Kleine.
“Gute Frage: Mit dem Morgenlauf bekomme ich euch wach. Direkt nach dem Aufstehen lauft ihr eine Runde über den Hof. Tempo egal, Kleidung egal, die meisten lassen den Schlafanzug gleich an. Hauptsache, ihr werdet wach.”, antwortete der Girschner. “Aufgrund der winterlichen Temperaturen habe ich mir aber etwas Neues ausgedacht, wie ich euch wach bekomme, also, lasst euch überraschen.”
“Oh nee…”, stöhnte Frederick.
“Das will ich jetzt nicht gehört haben.”, tadelte der Girschner und hob eine Augenbraue. “Und jetzt Koffer auspacken, halb sieben gibt es Essen.”
***
“Gehen wir vor dem Essen noch mal rüber zu den Mädels? Du willst doch sicher deine ‘spezielle Freundin’ Anna begrüßen!”, schlug Frederick vor und strich schon einmal vorsorglich an seinem Wuschelkopf herum. Was eigentlich nichts nützte, schließlich stand ihm das Haar immer vom Kopf ab, da konnte er streichen und bürsten wie er wollte.
“Mann, sie ist nicht meine Freundin. Ich kann ja auch nicht einfach da rüber gehen und hallo sagen. Was soll die denn denken, die weiß bestimmt nicht mal, wie ich heiße.”, antwortete Sergej. Das war übertrieben, immerhin ging Anna seit Anfang des Schuljahres in seine Klasse, aber dass sie sich nicht für ihn interessierte, war die Wahrheit.
“Ja genau deswegen ja. Du musst mal lockerer werden. Aber wenn du nicht willst, können wir ja auch ‘ne Runde stricken oder Ponypuzzle machen… Hey, ich hab ne Idee. Ich hab’ einen neuen Film, den können wir uns ansehen.”, schlug Frederick vor.
“Klar, warum nicht.”, stimmte Sergej zu.
“Ja, kommst du dann mit aufs Zimmer?”, fragte Frederick.
“Ich geh’ nur noch mal auf Toilette.”, sagte Sergej.
Im Waschraum traf er Aurelius, der auf dem Boden saß und las.
“Warum liest du denn auf dem Klo?”, fragte er.
“In meinem Zimmer wohnt jetzt dieser kleine Sechstklässler. Ich hab’ keine Lust, dass er mich mit seinem Heimweh zutextet.”, sagte Aurelius.
“Na, es ist doch ganz normal am ersten Tag Heimweh zu haben.”, beschwichtigte ihn Sergej.
“Ja klar, aber die ganze “meine-Eltern-fehlen-mir-so-weil-ich-sie-vier-Wochen-bis-zum-Besuchstag-nicht-sehe” - Sache geht mir einfach tierisch auf die Nerven. “, murmelte Aurelius. Plötzlich wusste Sergej, was Aurelius meinte.
“Sag mal, war das dein Opa, der dich hergebracht hat?”, fragte Sergej vorsichtig. Aurelius nickte.
“Ich kann mir denken, wie es dir geht, wenn der Kleine so kommt.”
“Ja, klar.”, sagte Aurelius sarkastisch. “Du kannst dir eben NICHT denken, wie es mir geht, meine Eltern sind tot! Du hast dein Friede-Freude-Eierkuchenleben, mit Mami, und Papi….”
“Hey. Reg dich mal wieder ab.”, versuchte Sergej den aufgebrachten Aurelius zu beruhigen. “Mein Vater ist vor zehn Jahren bei an einem Schlaganfall gestorben. Damals haben wir noch bei ihm in der Ukraine gelebt.”
“Oh, sorry, das wusste ich nicht.”, sagte Aurelius, nun etwas kleinlaut.
“Hm.”

Sergej fiel auf, dass er noch nie ein ernsthaftes Gespräch mit Aurelius geführt hatte, obwohl die beiden sich eigentlich besser kennen sollten, da sie die einzigen aus ihrer Jahrgangsstufe waren, die ausnahmslos an jedem Wochenende im Internat bleiben. Aurelius’ Opa wohnte ziemlich weit weg an der Nordsee und Sergejs Mutter arbeitete viel, und war am Wochenende oft auf Fortbildungen in anderen Städten und darum gar nicht zu Hause…
Normalerweise fing Aurelius aber immer an, dumme Fragen zu stellen oder Dichter zu zitieren, wenn man sich mit ihm unterhalten wollte. Er war schon irgendwie ein Freak.
Das mit dem Freak war nicht böse gemeint, aber Aurelius war einfach komisch. Er hatte zum Beispiel nur 5mm kurze Haare, trotzdem war das Erste, was er tat, wenn er morgens dichtend in den Waschraum kam, sie zu bürsten. Sergej hatte ihn einmal gefragt, was das solle, da es doch eher unnütz sei, daraufhin hatte sich Aurelius durch die dunkelblonden Haare gestrichen und gesagt:
„Einst hat man das Haar frisiert,
Hat’s gepudert und geschmiert,
Dass es stattlich glänze,
Steif die Stirne begrenze.
Nun lässt schlicht man wohl das Haar,
Doch dafür wird wunderbar
Das Gehirn frisieret,
Puder und Pomade
Im Gehirn! Gott Gnade! - von Justinus Kerner, wenn dich interessiert.“
Was sollte man bitte davon halten?

“Sag’ mal, ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber was machst DU denn hier im Waschraum?”, wechselte Aurelius das Thema.
“Ja, was soll ich denn hier machen? Ich muss mal.”, erklärte Sergej.
“Dann geh’ doch.”, kam die Antwort von Aurelius zurück.
“Äh, das geht nicht. Ich kann leider nicht pinkeln, wenn ich weiß, das mir jemand zuhört. Ich gehe lieber in den zweiten Stock.” Sergej hatte schon fast geglaubt, dass man mir Aurelius wirklich halbwegs normale Gespräche führen konnte. Aber irgendwie war Aurelius einfach mehr der Typ für unnormale, äußerst merkwürdige oder peinliche Unterhaltungen.
“Ne, ist schon gut, ich gehe selbst.”, sagte Aurelius, stand auf und klappte sein Buch (“Gedichte berühmter Dichter - Taschenbuch in 6.Auflage”) zusammen. “‘Kein Mensch muss müssen’ hat schon Lessing gesagt.”
“Äh, danke.”, murmelte Sergej.
***
Sergej stand in einem dämmrigen Raum. Das Licht, das von irgendwo her kam, lies die Tür rötlich schimmern. Sergej öffnete die Tür und vor ihm stand das Mädchen seiner Träume. Anna! Ihr schulterlanges Haar war so dunkel wie seines, ihre Gesichtszüge zart und sie trug ein rotes Kleid aus Seide, welches ihre wunderschöne Figur betonte.
“Ich habe mich schon so auf das Treffen mit dir gefreut!”, hauchte Anna und kam näher. Gleich würden sie sich küssen…!

“TUUUUT!”, riss ihn eine Hupe gewaltsam aus seinen Träumen. Vor Sergejs Bett stand ein hünenhafter Mann mit einer Drucklufthupe, wie man sie vom Fußball kennt. Der Girschner. Er dachte sich jede Woche eine neue Methode aus, “seine Jungs” zu wecken.
“TUUT! TUUUUUT!!!”
Schlagartig wurde Sergej bewusst, dass er in seinem Bett lag, und innig mit seiner Bettdecke kuschelte. Peinlich! Sergej lies die Decke los und richtete sich auf.
“Aufstehzeit!”, grinste Herr Girschner.
“Müssen Sie uns unbedingt wach- HUPEN? Die Mädchen werden von ihrer Hausmutter viel sanfter geweckt!”, maulte Frederick.
“Kannst ja fragen, ob du im Mädchenwohnhaus übernachten darfst. Aber mach’ dir keine großen Hoffnungen.”, gab Herr Girschner zurück. “Und jetzt beeilt euch, raus aus den Federn, in 10 Minuten beginnen wir anstatt des Morgenlaufs, die… na? …Morgengymnastik!! Im Aufenthaltsraum.”
Sergej stöhnte, Herr Girschner verlies das Zimmer.
“Los, die zehn Minuten pennen wir noch.”, brummte Frederick und wollte das Licht wieder ausschalten.
“Ne, ich steh auf”, sagte Sergej, schlüpfte in seine Hausschuhe und schlurfte den Gang entlang zum Waschraum. Herr Girschner war mit seiner Hupe bereits bei Aurelius und dem kleinen Neuen angekommen. Irgendwie tat ihm der Kleine leid, der gerade zum wahrscheinlich ersten Mal in seinem Leben so grausam aus den Federn gerissen wurde.
Er selbst, dessen größter Wunsch es gewesen war, auf diese Schule zu gehen, hatte am Anfang auch Probleme gehabt, mit dem Internatsleben klarzukommen. Der Betreuer, Herr Girschner, war ein ziemlich schräger Vogel. Nicht nur, dass er seine Schüler jede Woche auf eine andere Weise grausam zum Aufwachen zwang und sie im Sommer danach eine Runde über den Hof laufen lies, oder im Winter alle kurz nach dem Weckruf zur Morgengymnastik zwang.
Er hatte in vielerlei Hinsicht radikale Methoden. Am Anfang hatte Sergej gedacht, der Girschner hätte einfach nur Spaß daran, die Schüler zu quälen. Aber mittlerweile wusste er, dass es anders war. Sein Hausvater mochte zwar etwas eigen sein, doch wer Probleme hatte, fand bei ihm immer ein offenes Ohr.
Als Sergej von der Toilette wiederkam, zog er sich seine Weste über. Frederick hatte sich unter seiner Decke zusammengerollt, nur eine Hand und ein Stück seines wilden, braunen Haarschopfes schauten noch hervor.
“So. Nachtruhe beendet!”, tönte die Stimme von Herrn Girschner aus den Lautsprechern auf dem Flur. “Auf geht’s zum ersten Frühsport in diesem Jahr.”
Beim “Morgenlauf” und auch beim Frühsport ging es Herrn Girschner lediglich darum, die Schüler aus ihrem morgendlichen Halbschlaf zu holen. Man musste sich nicht körperlich verausgaben. Hauptsache war, man bewegte sich in irgendeiner Weise und Herr Girschner sah, dass auch alle aufgestanden waren.
Nach dem Frühsport, der im Schlafanzug gemacht wurde, zogen sich die Jungen an. Außer Frederick und Sergej. Frederick ging wieder ins Zimmer und schlief und Sergej nutzt die Zeit, um den Waschraum für sich zu haben.
Als er sich sein schwarzes Haar zum Scheitel kämmte und seine Brille kurz mit heißem Wasser reinigte, kam Aurelius in den Waschraum. Wie immer war der Erste von den Anderen, der angezogen war.

„Fliegt der erste Morgenstrahl
Durch das stille Nebeltal,
Rauscht erwachend Wald und Hügel:
Wer da fliegen kann, nimmt Flügel!“, rezitierte Aurelius. „Na, Sergej, was ist das?“

„Keine Ahnung“, antwortete Sergej müde.
„Das ist aus dem Gedicht ‚Der Morgen‘. Von Eichendorff!“
„Alles klar. Danke, Aurelius.“, Sergej hob die Hände nach oben und schüttelte ironisch den Kopf, „Was täte ich nur ohne dich...“

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Tut mir leid, dass im ersten Teil noch nicht viel Handlung ist, es ist eben die Einleitung. :)
Der zweite Teil ist in Arbeit. Kommentare sind natürlich immer erwünscht.






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