Verlorene Jahre

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 18.02.2011


…VOR FÜNFUNDVIERZIG JAHREN UND SECHS MONATEN…
“Liebling! Ich kann das nicht tun!”, sagt er leise. Tränen stehen ihm in den Augen. Sie weint, hält das Bündel im Arm.
“Eine andere Wahl haben wir nicht. Du musst.”
Er schluckt.
“Ich mache es so, wie besprochen. Ich mache es so.”, murmelt er.
“Wenn du es getan hast, verschwindest du! Für immer. Ich will dich nie, nie wieder sehen, hörst du! Es ist zu gefährlich.”, zischt sie.
“Ja.”, er nickt, nimmt ihr das Bündel ab. Er legt es in den Korb und legt die Decke lose darüber. Es darf nur keiner sehen, was er bei sich trägt.
“Das wird uns vermutlich in die Hölle bringen.”, flüstert sie.
“Gott ist gnädig.”, antwortet er. Dann ist er verschwunden.
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“Bitte, Sophia, achten Sie darauf, dass alles ordentlich ist. Räumen Sie auch einmal Ihre eigene Stube auf. Sehen Sie, dort, auf dem Regal, haben Sie wieder einmal etwas ausgelassen. Ich sehe den Staub schon von weitem. Wofür werden Sie eigentlich bezahlt?” Wenn es eines gab, was die Gräfin Agnes von Allwörden hasste, dass war es, wenn ihr Personal nicht haargenau das tat, was sie verlangte. Sie fragte sich oft, ob es wirklich so schwer war für ein Dienstmädchen, den gesunden Menschenverstand einzusetzen und eigenständig zu erkennen, dass beispielsweise das Foyer geputzt werden musste.
Sophia, die Bedienstete, war die Launen der gnädigen Frau gewohnt. Sie arbeitete bereits seit viereinhalb Jahren für diese und hatte auch den vor vier Jahren verstorbenen Ehemann noch kennen gelernt. Ein gutmütiger Herr mit einem freundlichen Gesicht.
Die Gräfin, mit ihrem, zu einem schmalen Strich verkniffenen Mund und den eisgrauen, immer zu einem festen Knoten gebundenen Haaren strahlte hingegen kaum Herzlichkeit, sondern vielmehr Strenge aus. Freundlich war sie noch nie zu Sophia gewesen. Aber Sophia brauchte diese Arbeit, so sagte sie brav: “Sehr wohl, gnädige Frau”, und machte sich daran, das ohnehin schon saubere Regal noch einmal gründlich mit dem Staubtuch zu bearbeiten.
“Genug. Das reicht.”, sagte die Gräfin irgendwann. “Sie haben Pause. Am Nachmittag wird meine Tochter mit meinen Enkeln eintreffen, ich erwarte von Ihnen ein angemessenes Auftreten. Und tragen Sie Ihr Haar ordentlich.” Sie deutete auf die Haarspange Sophias, aus der sich einzelne, blonde Haarstränen gelöst hatten.
Dazu machte Sie eine unwirsche Handbewegung, Sophia solle sich entfernen.
“Soll ich Ihnen das Essen auftragen?”, fragte Sophia noch einmal nach.
“Herrgott, nein! Sie haben Pause. Nehmen Sie sich Ihre Mahlzeit und ziehen Sie sich zurück. Gotthold serviert mir.”
Gotthold war so alt wie die Gräfin selbst. Er war schon so lang in seinem Beruf, dass er etwas davon verstand. Er konnte Auto fahren, kümmerte sich um den Garten und um alle anderen Dienste, für die man das Hausmädchen nicht gebrauchen konnte. Außerdem war der Altersunterschied zwischen ihm und Sophia groß genug, als dass die beiden nichts miteinander hätten anfangen können. Und Gotthold selbst liebte seine Arbeit. Er hätte sich zwar mit siebzig Jahren längst den Ruhestand verdient, doch an aufhören wollte er gar nicht denken. Solange er bei der Gräfin Anstellung fand, blieb er. Und er wusste, dass sie ihn nicht ersetzen würde.
An diesem Tag erlaubte die Gräfin Gotthold, mit ihr zu Mittag zu essen.
“Du wirst meine Tochter in Empfang nehmen.”
“Wie Sie wünschen. Darf ich fragen, wie lange sie und ihre Kinder hier verweilen werden?”
“Meine Tochter ist, wie du weißt, von sehr launischer Natur. Geplant sind zwei oder drei Wochen. Aber wer weiß, ob sie nicht doch länger bleibt. - Reiche mir bitte etwas Brot.”
“Sehr wohl.” Gotthold stand auf, nahm den Brotkorb und ging, wie immer kerzengerade, um den Tisch herum und reichte ihn der alten Dame. Er lächelte, jedoch ohne seine Zähne zu zeigen. Nicht, dass diese schlecht gewesen wären. Gotthold war stolz, in seinem Alter noch beinahe alle Zähne behalten zu haben. Es gehörte sich nicht, mit geöffnetem Mund zu lächeln.
“Verzeihen Sie mir die Frage, gnädige Frau, aber ich nehme an, Sie werden mich in Anwesenheit Ihrer Tochter und Ihrer Enkel anders ansprechen.”, sagte Gotthold, und strich sich diskret das graue Haar zurecht.
“Du verstehst, es ist der Etikette halber. Das “Sie” ist daher unumgänglich.”, antwortete die gnädige Frau und gab ihm das Zeichen, sich setzen zu dürfen.
“Selbstverständlich, gnädige Frau. Selbstverständlich.”, beteuerte Gotthold und nickte. “Es macht mich betrübt, Sie so zu sehen.”, fügte er noch hinzu.
“Bitte, Gotthold, wahre die Umgangsform. Persönliche Gedanken behalte bitte für dich.”
Gotthold wandte seinen Kopf zum Fenster hin, hatte er doch ein Geräusch vernommen, denn gerade in diesem Moment fuhr ein silbergraues Auto auf den Hof.
“Das ist viel zu früh!”, empörte sich Agnes von Allwörden. “Sie hätten erst in zwei Stunden eintreffen dürfen.”
“Setzen Sie sich ruhig, gnädige Frau, ich werde das für sie handhaben.” Gotthold stellte sich kerzengerade neben den Stuhl, klopfte sein Jackett zurecht, tupfte sich mit einem Taschentuch die faltige Stirn und die große Nase ab und ging eilig in Richtung Tür. Dort drehte er sich noch einmal um, kam zurück, stapelte sein Essbesteck auf das Tablett und brachte es in die Küche.
“Der Etikette wegen.”, erklärte er und die Gräfin nickte zustimmend. So sollte es sein. Gotthold erkannte selbst, was zu tun war. Er war inzwischen auf dem Hof angelangt. Die Gräfin selbst stand auch auf, atmete einmal tief durch und ging nach draußen.
“Hallo Mutter.”, sagte Leonora von Allwörden, die Tochter Eugenies von Allwörden leise, als sie ihre Mutter sah. Sie hatte haselnussbraunes Haar, ihre beiden Töchter ebenso.
Die beiden hatten sich im Auto wegen einer Kleinigkeit heftig gestritten und sahen weniger ordentlich aus, als sie es vor der Fahrt gewesen waren. Die bunten Kleider waren unversehrt, doch die Haare waren zerzaust und Helene, die ältere von beiden, hatte auf ihrem rechten Arm einige Kratzer.
“Meine Güte, lässt du deine Kinder verkommen, dass sie noch nicht einmal anständig gekämmt… - Herrgott!”, rief sie plötzlich aus, als sie ihre Tochter sah. “Leonora! Bist du - erwartest du ein Kind?!”
Leonora ersparte sich die Antwort. Ihr dicker Bauch war überdeutlich zu erkennen, sie war bereits im achten Monat schwanger. Sie hob den Kopf und sah ihrer Mutter ins Gesicht.
Gotthold erfasste die Situation als Erster und holte einen Gartenstuhl für die Gräfin. Diese setzte sich und sah ihre Tochter vorwurfsvoll an.
“Wie geht denn das? In deinem Alter! Du hast dich doch von diesem Christopher getrennt!”, zeterte sie.
“Mama hat das Kind mit Papa gemacht, bevor er weggegangen ist.”, erklärte die elfjährige Johanna und versuchte damit ihrer Mutter zu helfen. “Und außerdem ist Mama erst vierzig.”
“Sei still!”, wurde sie von der fünfzehnjährigen Helene zurechtgewiesen.
“Sei du doch still!”, gab ihre kleine Schwester zurück und streckte die Zunge heraus.
“Ich mache euch einen Vorschlag, Kinder. Wir gehen jetzt hinein und ich zeige euch, wo ihr schlaft. Ich habe ein prima Kartenspiel.”, mischte sich Gotthold ein und schob die beiden Mädchen ins Haus.
“Was wird es denn? Wird es diesmal ein Junge?”, erkundigte sich die Gräfin hoffnungsvoll, kaum hatte sie sich etwas von ihrem Schock erholt. Auch wenn diese Vorstellung veraltet war, und sie selbst ja auch als Frau gegerbt hatte, da sie keinen Bruder gehabt hatte, so wünschte sie sich sehnlich einen männlichen Nachkommen.
“Ich weiß es nicht.”, antwortete Leonora. Sie wusste es wirklich nicht. Die Ärztin hätte es ihr sagen können, doch Leonora hatte abgelehnt. Sie wollte sich überraschen lassen.
“Gehen wir ins Haus. Hier draußen ist es kalt.”, sagte die Gräfin und stand auf. “Gotthold wird später das Gepäck ins Haus tragen.”
Dieser hatte in der Zwischenzeit begonnen, mit den beiden Mädchen Karten zu spielen. Er hasste Kartenspiele und bei den beiden Enkelinnen der Gräfin war es wohl ebenso, jedoch wussten alle drei, dass dieses Kartenspiel notwendig war, um den Hausfrieden irgendwie aufrecht zu erhalten.
“Wie geht es Ihnen denn so?”, fragte Helene irgendwann, um die Stille zu brechen. Mit ihren freundlichen, dunklen Augen und den herzlichen Gesicht ähnelte sie sehr ihrem Großvater. Obwohl sie keinen schlechten Charakter hatte, hatte sie nur wenige Freunde. Sie war zurückgezogener und stiller als ihre Mitschüler und lebte ein bisschen für sich allein. Diese Eigenschaften teilte sie mit ihrer Schwester nicht. Johanna war frech und zielstrebig, setzte immer ihren Willen durch und stand, wo immer sie war, im Mittelpunkt.
So verschieden die Schwestern sich jedoch innerlich waren, so sehr glichen sie sich äußerlich. Beide hatten Haar- und Augenfarbe, die schlanke Figur und die Gesichtszüge ihrer Mutter geerbt, die wiederum ihrer Mutter, der Gräfin glich - als diese noch jünger gewesen war, versteht sich.
“Gut, gut.”, antwortete Gotthold auf die Frage nach seinem Befinden. “Ich kann nicht klagen.”
Nun läutete unten die gnädige Frau mit der Glocke. Gotthold und Sophia sollten antreten. Die Mädchen folgten Gotthold nach unten ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter und ihrer Großmutter sich, beide immer noch bleich im Gesicht, gegenübersaßen.
“Gotthold, bringen Sie die Koffer ins Haus. Danach haben Sie frei. Und Sophia, bitte bringen Sie uns einen Tee.”, ordnete die Gräfin an.
“Ich hatte vor, in die Stadt zu fahren, in meiner freien Zeit. Sollten Sie mich jedoch früher als geplant zurückerwarten…?”, deutete Gotthold vorsichtig an.
“Nein, nein. Gehen Sie ruhig. Sie haben sich Ihren freien Nachmittag verdient”, beteuerte die Gräfin.





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