Irdisches und Überirdisches

Autor: Judy
veröffentlicht am: 14.02.2011


Rennen. Einfach nur rennen. Ohne einen Blick zurückzuwerfen ahnte Lou sofort, dass die Verfolger ihr bereits dicht auf den Versen waren. Es war dunkel, die Regennassen Straßen kaum beleuchtet von einzelnen Straßenlaternen. Kein Geräusch war zu hören, außer das klappern ihrer Eigenen Absätze und die Dumpfen Schritte der Verfolger. Von Zeit zu Zeit riss die Wolkendecke am Himmel auf und das Licht des Vollmondes spiegelte sich in den Pfützen. Ein leises Fluchen erklang dicht hinter Lou, als einer der drei Männer in eine Tiefe Pfütze trat und das Regenwasser einen Weg durch seine dünnen Schuhsohlen fand und nun langsam an den Strümpfen empor kroch. Nur noch ca. 30m trennte Lou noch von den Männern und ihre Kräfte begannen zu schwinden. Die Männer würden sie herfallen, aber nie würde sie ihr Geheimnis preisgeben. Lou wusste, dass diese Sekunden ihre letzten sein würden.
Lou stolperte und fiel der Länge nach auf den Boden. Sie war nicht fähig aufzustehen. Wozu auch. Die drei Männer würden sie sowieso früher oder später töten. Mit letzter Kraft drehte sie sich auf den Rücken. Einer der Männer hatte sich bereits über sie gebeugt. Sie blickte direkt in seine leuchtend grünen Augen. Gerade fragte sich Lou erschöpft, ob ihre eigenen grünen Augen ihre Strahlkraft trotz Erschöpfung beibehalten hatten, als sie erschrak. Die Augen, in die sie dort blickte, waren ihre eigenen.
"Magnus", flüsterte sie. Ihr Zwillingsbruder schien genauso erschrocken, als er Lou erkannte, die hilf- und schutzlos im Dreck lag. Inzwischen standen die beiden anderen Männer neben ihm.
"Was ist los?", fragte der zu seiner Linken, ein großer bärtiger, ungepflegter Mann, der mindestens doppelt so alt war, wie Magnus und Lou. Magnus dagegen war gepflegt wie immer, selbst nach der Verfolgungsjagd durch Schlamm und Nässe trug sein Anzug keine Spuren davon. Die Haare elegant zur Seite gekämmt sah er einfach unverschämt gut aus. Lou war immer eifersüchtig gewesen. Während er in seiner Jugend die Mädchen abschleppte, war sie Dauersingle gewesen. Etwas zu dick, schwere Zöpfe. Brille und Zahnspange störten das Gesicht.
"Du hast dich verändert, Luisa", sagte nun der junge Mann auf der rechten Seite. Auch Magnus besten Freund hatte sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen.
Magnus war an seinem 18. Geburtstag von zu hause ausgezogen. Noch bevor er das Frühstück beendet hatte, war er aufgestanden, hatte seine Tasche genommen und war zu Tür hinaus gegangen. Keiner hatte ihn seit diesem Moment gesehen.
"Was ist los?", fragte der Bärtige zum Zweiten mal.
"Nichts", log Magnus und stellte sich aufrecht. Mit seinem Fuß drehte er Lous Gesicht zur Seite um einen Blick auf ihre Ohrringe zu werfen, die ihrer Mutter gehört hatten. Es waren Hänger mit einem kleinen Segelboot. Für einen Moment schob sich eine Erinnerung vor seine Augen. Lous und sein erstes Weihnachten. Sie waren also gerade ein dreiviertel Jahr alt. Ihre Mutter hatte beide Kinder auf dem Arm und lies sie mit ihren Segelbootohrringen spielen.
Magnus schüttelte kurz den Kopf um die Erinnerung loszuwerden. Er nahm den Fuß von Lous Kopf und lies diesen zurückschnellen. Die beiden blickten sich in ihre Augen. Schließlich drehte sich Magnus nacheinander zu den beiden anderen Männern um.
"Erschießt sie."
Lou riss die Augen auf. Wie in Zeitlupe nahm sie wahr, wie der Bärtige Magnus zur Seite schob und schließlich seine Waffe hob. Dazwischen mischten sich Erinnerungen, die wie ein Film immer wieder vor ihren Augen abliefen. Magnus und sie bei ihrem Kindergeburtstag in der zweiten Klasse, als sie noch die besten Freunde waren. Die glückliche Kindheit der beiden. Dann den Tag als sie beide mit ihrem Zeugnis am Ende des achten Schuljahres nach Hause kamen. Magnus Zeugnis strotzte vor Einsen, während Lou das Klassenziel nicht erreicht hatte und das Jahr wiederholen musste. Seit diesem Tag war ein Sprung zwischen der tiefen Geschwisterliebe, der sich von Jahr zu Jahr immer weiter vergrößerte. Der große Magnus, der gute Magnus, der Magnus, der jedes Mädchen haben konnte, was er wollte. Der intelligente, zuverlässige, gutaussehende Magnus. Lou kam sich gegen ihn vor, wie ein Trampeltier. Ihr 18. Geburtstag. Der Tag, als Magnus plötzlich ohne jeden Grund verschwand.
Von dem Tag an änderte sich Lous Leben. Auch wenn die letzten Jahre gemeinsam mit Magnus unausstehlich waren, liebte sie ihren Bruder wie am ersten Tag. Es verging kein Tag, an dem sie nicht betete, er würde zurückkommen. Lou war kaum noch wiederzuerkennen. Sie tauschte ihre Brille gegen Kontaktlinsen, legte sich eine neue Frisur zu, nahm ab.
Wie lange hatte sie den Tag ersehnt, Magnus wieder zu sehen. Doch nun lag sie unter ihm im Dreck und er lies sie töten. Lou blickte in die Mündung der Waffe und schloss die Augen. Sollte er doch. Ein Schuss ertönte und das nächste, was Lou wahrnahm war ein heller Lichtschein.





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