Näher als je zuvor

Autor: Anonym01
veröffentlicht am: 09.02.2011


Ich rang panisch nach Luft. Furchtbare Angst überkam mich, als sich meine Lungen in Rekordzeit mit Wasser füllten. Mich bewegen oder meine Augen öffnen konnte ich nicht. Dazu war ich zu dieser Zeit zu schwach. Plötzlich riss mich die Strömung immer tiefer ins Meer hinein. An meinem Körper schwammen viele Fische entlang. Es mussten kleine gewesen sein, denn ich konnte ihre schmalen, dünnen Flossen an meinen Armen und Beinen spüren. Auf einmal wurde die Strömung stärker und mit voller Wucht schlug ich mit meinem Kopf gegen irgendetwas hartes. Einen Augenblick lang spürte ich den unerträglichen Schmerz, doch dann war alles weg.
„Heute Morgen gab es einen tragischen Unfall“, kam es aus den Nachrichten im Fernseher. „Trotz Warnungen vor einem Unwetter ist ein Mann zusammen mit seiner Frau und Tochter zum Segeln hinausgefahren. Anscheinend überraschte der Sturm die Familie. Trotzdem konnten die zwei Erwachsenen gerettet und ins Krankenhaus gebracht werden. Aufgrund schweren Körperverletzungen werden sie zurzeit operiert. Noch unklar ist, ob sich beide in Lebensgefahr befinden. Seit Stunden sind die Rettungsteams noch auf dem offenen Meer unterwegs auf der Suche nach dem Mädchen. Die Suche wird schätzungsweise bis heute Abend andauern und wenn sie bis dahin immer noch nicht gefunden wurde, wird die Suche am Morgen fortgesetzt. Weitere Meldungen folgen in den nächsten Stunden. Nun kommen wir zum heutigen Wetter.“ Nick schaltete den Fernseher aus. Hastig lief er hinaus zu seinem Auto und fuhr in Richtung Küste. Dort angekommen rannte er so schnell er konnte zu seiner kleinen, aber feinen, Yacht und fuhr aus dem Hafen heraus und an einer Menge Rettungsschiffen vorbei. Die Yacht war früher ein großer Kindheitstraum von ihm gewesen, den er sich mit seinem Ersparnissen nun erfüllt hatte. In seinem Kopf drehten sich tausende von Fragen, die er sich nicht beantworten konnte. Das einzige was ihm bewusst war, ist, dass er sie finden musste, auch wenn er nicht genau wusste, wo er anfangen sollte zu suchen. Um zu jeder Zeit auf dem neusten Stand zu sein, schaltete er sein Radio ein. Es vergingen Minuten, die mittlerweile schon zu Stunden geworden waren. Nick hoffte sehr, dass er sie noch vor Sonnenuntergang finden würde. Ihm blieben aber immerhin noch ungefähr fünf Stunden, bis es dunkel werden würde.
Als sie erwachte, blickte sie in den strahlend blauen Himmel. Nirgends war eine Wolke zu erkennen, aber dafür unzählige Möwen. Langsam versuchte sie sich aufzurichten, um sich umzuschauen. Weit und breit nur Felsen, Sand, Palmen und das Meer. Geschwächt setzte sie sich in den weichen Sand und brachte ein leises, schluchzendes „Hilfe“ heraus, auch wenn es wahrscheinlich Niemand hören konnte. Wo war sie? Und was machte sie hier? Verwirrt schweifte ihr Blick über das Meer. Es schimmerte Prachtvoll und spiegelte die Farben der Sonnenstrahlen wieder. Je länger sie auf das Meer hinaus schaute, desto mehr genoss sie es. Mit ihrem Zeigefinger malte sie im von der Sonne angenehm erwärmten Sand Wellen artige Linien. Es kam ihr vor, als wenn sie schon eine Ewigkeit hier war, doch in Wirklichkeit waren es erst ein paar Stunden, um genau zu sein ein halber Tag. Beunruhigend fand sie nur, das überhaupt keine Schiffe oder Boote zu sehen waren. Die ganze Zeit über hatte sie furchtbare Kopfschmerzen und das Gefühl, das sie immer stärker und schlimmer werden. Sie versuchte aufzustehen, doch plötzlich wurde ihr total schwindelig und schwarz vor Augen. Am liebsten hätte sie laut geschrien, weil ihr der Kopf so weh tat, doch die Schmerzen bereiteten ihr einen Kloß im Hals, der verhinderte, dass sie einen Ton herausbringen konnte. Diese Kopfschmerzen waren für sie unerträglich. Ihre Hände drückte sie an den Kopf, in der Hoffnung das die Schmerzen aufhören würden, was allerdings nicht funktioniert hat. Auf einmal brach sie zusammen und sank in Zeitlupe zu Boden.

Er lauschte aus den Lautsprechern seines Radios. „Mike Gordon der mit seiner Familie heute Morgen trotz Unwetterwarnung aufs Meer segelte ist außer Lebensgefahr. Zu der Situation seiner Frau können noch keine genauen Angaben gemacht werden.“ In einer halben Stunde wird es dunkel sein, dachte er. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, bis die Sonne unterging. In nicht alt so weiter Entfernung sah er ein Schiff. So wie es aussah ließ es sich von der Meeresströmung treiben. Er näherte sich dem Schiff und war völlig empört, als er zwei Männer vom Rettungsteam essend auf einer Liege vorfand. In dem Moment stieg Wut und Trauer zugleich in ihm auf. Wie konnten die ruhig dasitzen und etwas Essen, während sie wahrscheinlich noch am Leben ist und auf Rettung wartet? Aber anscheinend hätten diese zwei Männer überhaupt kein schlechtes Gewissen gehabt, falls sie nicht gefunden wird und die zwei sie eigentlich retten konnten. „Was machst du hier, Junge?“, fragte mich einer von ihnen. „Es ist viel zu gefährlich. Schließlich soll angeblich noch ein heftiger Sturm im Anmarsch sein“, sagte der andere. „Anstatt mir Fragen zu stellen solltet ihr euch lieber fragen, warum ihr dort tatenlos herum sitzt und nicht nach dem Mädchen sucht“, kam Nicks Antwort prompt. „Wir sind schon seit heute Morgen im Einsatz. Eine Pause wird uns wohl mal gegönnt sein,“ antworteten sie gleichzeitig. Beide klangen ein wenig genervt. „Ist euch bewusst, dass ihr vielleicht das Leben des Mädchens aufs Spiel setzt? Ich werde erst zum Hafen zurückkehren, wenn ich sie gefunden habe.“ Fest entschlossen entfernte er sich von dem Rettungsschiff und fuhr gerade aus. Er wollte einfach nur weg von den beiden Männern. Als die Nachrichten aus dem Radio drangen, drehte er das Radio lauter. „Trotz mehreren Rettungsteams, die unterwegs sind, gibt es noch immer keine Spur von dem Mädchen“, dröhnte es aus dem Radio. Da es langsam dämmerig wurde, machte er die Lampen und Scheinwerfer seiner Yacht an.

Ein großes, helles Licht kam auf sie zu. Sie dachte, sie wäre im Himmel. Ab und zu vielen ihr die Augen vor Erschöpfung zu und sie fror erbärmlich, denn der Sand auf dem sie lag ist nun nicht mehr so warm wie er am Nachmittag war. Da sie auf dem Rücken lag spürte sie ihre Kopfschmerzen nicht mehr so stark wie am Anfang. Sie sehnte sich nach einem Ort an dem sie sich geborgen fühlen konnte. Einen Ort, an dem sie zufrieden und ohne Sorgen leben konnte. Und sie wünschte sich jemanden an ihrer Seite zu haben, der sie beschützt und damit sie nicht mehr so alleine war. Nach und nach viel es ihr immer schwerer wach zu bleiben.

Er glaubte etwas in weiter Ferne gesehen zu haben. Da es nun bereits dunkel war, leuchtete er mit den Scheinwerfern in die Richtung, nahm sein Fernglas und schaute hindurch. Eine Insel! In dem Augenblick machte er sich wieder Hoffnungen sie zu finden. Es war möglich, dass sie von den riesigen Wellen, die der Sturm brachte, an den Strand gespült wurde. Mit voller Kraft steuerte er die Insel an. Durch das Licht der Scheinwerfer war fast die gesamte Insel sichtbar. Und dann sah er sie. Ihr Körper lag reglos am Strand. Dieser Anblick war für ihn nur schwer zu ertragen. Sofort sprang er ins flache, kalte Wasser, lief zu ihr, setzte sich neben sie, nahm ihre Hand und suchte ihren Puls. Er war noch ganz schwach zu spüren. Erleichtert atmete er aus und trug sie vorsichtig auf die Yacht, um sie dann ohne eine Sekunde länger zu zögern ins Krankenhaus zu bringen.

„Nach neusten Meldungen ist das Mädchen gerettet worden. Nach Angaben von Nick Anderson hat er sie auf einer Insel gefunden. Er brachte sie gleich ins Krankenhaus,dort wird sie nun untersucht und vielleicht muss auch sie operiert werden. Ihre Mutter, Mary Gordon, hat die ganze Sache allerdings nicht überlebt. Sie ist nach der Operation gestorben, da ihr Herz plötzlich aufgehört hat zu schlagen. Die Ärzte haben versucht sie wiederzubeleben, doch es war bereits zu spät.“ Heute war ein Tag an dem Nick die meiste Zeit Radio hörte. An diesem Tag hatte er mehr Radio gehört, als je zuvor. Noch niemals in seinem Leben hatte er so eine Angst gehabt sie zu verlieren. Für ihn war es immer selbstverständlich, dass sie da war. Sie war sein Leben. Er wüsste nicht was er ohne sie anfangen sollte. Ein Leben ohne sie könnte er sich einfach nicht mehr vorstellen. Sie zu verlieren bedeutete für ihn den Weltuntergang. Als er sie auf der Insel so leblos vorgefunden hatte, glaubte er erst sie sei tot. Das war der schrecklichste Gedanke den er jemals hatte und wahrscheinlich jemals haben würde. Besorgt um sie und so nervös, dass er anfing an seinen Fingernägeln zu kauen, ging er im Flur des Krankenhauses ständig auf und ab. Warum dauerte das nur so lange? Diese Ungewissheit und das lange Warten machte ihn verrückt. Nick wollte zu ihr. Sie in seinen Armen halten und am liebsten nie wieder loslassen. Im selben Flur auf einem Stuhl hockte ihr Vater. Still schweigend saß er da und wischte sich ein paar Tränen weg. Die Tür ging auf und heraus kam ein schon etwas älterer Mann, bekleidet mit einem weißen Kittel. Er teilte ihnen mit, dass sie sie erst morgen wiedersehen können, da sie momentan viel Ruhe braucht. Nun wandte er sich an Mike Gordon: „Das mit ihrer Frau tut mir wirklich sehr leid. Wir haben alles versucht was in unserer Macht stand.“ Mike nickte nur stumm. Aus den Augenwinkel heraus beobachtete Nick ihn und bemerkte, wie ihm wieder eine Träne über sein Gesicht lief. „Ich werde hier warten, bis ich endlich zu ihr kann“, meinte ich zu dem Arzt. „Das geht nicht. Sie sollten auch nach Hause und sich ausruhen. Heute war ein anstrengender Tag, für uns alle“, antwortete er. Verständnislos sah Nick zu, wie Mike davonging. Nick aber wollte nicht gehen, nicht ohne sie. Er wollte bei ihr bleiben. So lange, bis er sie sehen durfte. Dafür würde er sogar die ganze Nacht Aufbleiben. Trotzdem machte er sich nach einigen Minuten auch auf den Weg.
Obwohl er in seinem gemütlichen Bett lag konnte er nicht einschlafen. Nick dachte die ganze Zeit nur an sie. Er dachte daran, wie es ihr wohl jetzt ging. Ob sie vielleicht auch gerade an ihn denkt? Mit geschlossenen Augen lag er da. So sehr er sich auch wünschte einzuschlafen, blieb sein Wunsch unerfüllt. Er wagte einen Blick auf die Uhr. Die Zeiger zeigten genau ein Uhr an. Dann endlich schlief er ein und viel in das Land der Träume.
Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Gestern Abend hatte er vergessen den Vorhang zu zuziehen. Er schaute auf die Uhr. Es war halb neun. Als er aufstand merkte er, dass er in Klamotten geschlafen hatte. Im Bad duschte er, machte sich fertig und zog frische, neue Kleidung an. Weil er sich beeilte und seine Haare zu föhnen ihm zu lange dauern würde, waren seine Haare noch halb nass.
Im Krankenhaus kam ihm der Mann, der ihn gestern weggeschickt hatte entgegen. Als er an ihm vorbeigehen wollte, hielt er ihn auf. „Warte“, sagte er. „Die Lage des Mädchens hat sich in der Nacht verschlechtert. Sie hat keine äußerlichen Verletzungen, aber leidet unter Hirnblutungen. Anscheinend muss sie gegen etwas hartes mit dem Kopf gegen gekommen sein. Wir mussten sie operieren und danach ist sie ins Koma gefallen. Wir wissen nicht ob sie es überleben wird.“ Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Im Koma? „Warum?“, fragte er wütend. „Warum ausgerechnet sie?“ Er war fertig mit den Nerven. Er brauchte sie so sehr. „Du kannst jetzt zu ihr. In manchen Fällen ist es so, wenn man auf einen Patienten einredet, der im Koma liegt, dass derjenige das hören kann“, gab der Arzt von sich, während er seine Hand mitfühlend auf die Schulter von Nick legte. Dann entfernte er sich von ihm und ging seiner Arbeit nach. Nick schlenderte in Gedanken durch die Flure, bis er an der Tür von ihr ankam. Leise öffnete er sie und trat ein. Danach schloss er sie behutsam und ging hinüber zum Bett in dem sie lag. Sie wirkte friedlich, so als wenn sie einfach nur schlief. Vorsichtig setzte er sich auf die Bettkante und strich sanft mit seinem Finger über ihre zarte Hand. „Du fehlst mir“, flüsterte er. Tränen breiteten sich auf seinem Gesicht aus. Eine Träne nach der anderen kullerte aus seinen Augen heraus. Die Zeit stand für ihn für einen Augenblick still.
Seit acht Tagen liegt sie jetzt schon im Koma. Nick besuchte sie jeden Tag und blieb meistens bis spät in die Nacht, genau wie Mike. Die Beerdigung von Mary Gordon fand in drei Tagen statt.
Am neunten Tag, als Mike sich gerade einen Kaffee holte, saß Nick neben ihrem Bett auf einem Stuhl und beobachtete sie. Er dachte er hätte sich gerade eingebildet, dass sie sich bewegte. Deswegen musste er noch mal ganz genau hinschauen. Plötzlich zuckten ihre Finger. Ab da an wusste er, dass sie es geschafft hat. Gespannt hielt er ihre Hand fest. Tatsächlich öffnete sie ihre Augen, sodass man wieder das strahlende Blau in ihren Augen erkennen konnte. In dem Moment kam Mike, mit seinem Kaffee, wieder. „Emily“, sprach er, als er zu ihr ans Bett gegangen war. „Kannst du mich hören, Emily?“ „Wo bin ich?“, fragte sie, während sie sich hilflos im Zimmer umschaute. Ihr Blick wanderte von einer Ecke zur nächsten. „Du bist im Krankenhaus“, sagte Mike. „Wieso?“, wollte sie wissen. „Und wer seit ihr?“ Es klopfte an der Tür. Herein kam der Arzt, der Emily operiert hatte. „Doktor.“ Nick sah ihn verzweifelt an. „Wieso weiß sie nicht wer wir sind?“ Mit langsamen Schritten ging er auf sie zu. „Sie hat schwere Kopfverletzungen. Es könnte höchstwahrscheinlich sein das sie unter einer Gehirnerschütterung leidet. Wir hoffen natürlich, dass es nur für kurze Zeit so ist. In den meisten Fällen erinnern sich die Patienten schon nach ein bis zwei Wochen wieder an alle Geschehnisse. Aber versprechen kann ich allerdings nichts,“ sagte er. „Ich muss sie jetzt leider bitten auf den Flur zu gehen.“ „Was? Warum?“ Nicks Stimme klang besorgt. „Sie braucht mich!“ „Das einzige was sie jetzt braucht ist Ruhe“, meinte der Arzt zu ihnen. Gehorsam verließen beide das Zimmer. Vom Flur aus konnte man durch eine Scheibe in das Zimmer hineinblicken. Der Arzt verließ ebenfalls den Raum. Nick sah zu wie Emily ihre Augen wieder schloss. Nachdenklich stand er da und wandte seinen Blick nicht ab.
Eine Woche später:
Es klopfte an der Tür. Herein kam Nick mit einem Rosenstrauß in der Hand. „Der ist für dich“, sagte er und stellte den Strauß mit weinroten Rosen in eine Vase, die neben dem Bett auf einem Nachtschrank stand. Dann nahm er Platz auf einem Stuhl. „Danke.“ Emily lächelte ihn an. Für Nick war es das bezaubernde Lächeln das er je gesehen hat. Nun war ihm bewusst wie schnell man einen Menschen verlieren könnte. Er spürte, dass das Unglück ihn und Emily noch näher zusammengebracht hat. „Kannst du dich an das was passiert ist erinnern?“, fragte Nick vorsichtig nach. Es dauerte bis sie endlich antwortete. „Es kommt mir so vor ist so, als wenn etwas aus meinem Leben herausgerissen wurde.“ Aus ihren Augen kullerten nacheinander einige Tränen. Nick setzte sich auf die Bettkante, küsste sie zärtlich auf die Stirn und legte seinen Arm um ihre Schulter. „Ich kann mich an den gesamten Unfall nicht mehr erinnern, egal wie oft ich es versuche oder daran denke,“ schluchzte sie. „So als hätte man einen vollen Papierkorb geleert oder eine beschriebene Tafel gewischt.“
Es vergingen mehrere Tage, die Beerdigung ist gewesen und Emily, deren Zustand sich innerhalb von wenigen Tagen stark verbessert hat, war endlich wieder zu Hause. Sie genoss es nicht mehr das Essen im Krankenhaus zu sich nehmen zu müssen. Zuhause ging es ihr gleich noch viel besser, weil ihr alles so vertraut vorkam. Nur in ihrem Herz sind Wunden geblieben, die wahrscheinlich nie heilen werden: Den Verlust ihrer Mutter.







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