Du bist mein Retter!

Autor: Calandra
veröffentlicht am: 23.01.2011


„Du bist exakt sechs Minuten zu spät, Laura“, tadelte Frau Zwahlen ihre Problemschülerin, als diese die Tür zum Klassenzimmer öffnete. „Tut mir Leid“, murmelte Laura und setzte sich auf ihren Platz in der hintersten Reihe. Sie sass an einem Einzelpult, weil sie, wie Frau Zwahlen zu sagen pflegte, Terror betreibe. Mit Terror meinte Frau Zwahlen wohl, dass Laura das Klassenklima und somit den Unterricht schlecht beeinflusste. Laura wusste selber, dass sie das tat. „Noch ein einziges Mal und ich schicke dich zur Schuldirektorin“, mahnte die ungefähr fünfzig Jahre alte Frau. Laura nickte nur gelangweilt und nahm ihr Etui und ihr Schreibheft aus ihrer schwarzen Umhängetasche. „Hast du mich verstanden, Laura?“, fragte die Lehrerin nochmals laut. „Ja, ich habe Sie verstanden!“, röhrte Laura laut. Die Schüler waren sich diese Art von Unterhaltung zwischen ihrer Mitschülerin und der Lehrerin gewohnt, sie hörten nur mit halbem Ohr zu und tratschten lieber mit den Kollegen, als sich einzumischen.

Laura öffnete ihr Heft und begann auf der Seite, auf der sie waren, Zeichnungen zu machen. Sie bemerkte gar nicht, wie die Stunde verging. Die Lehrerin nahm sie nie dran, da sie wusste, dass Laura sie sie sowieso nur vor der Klasse blossstellen würde und somit war man wieder beim Thema Terror betreiben.

Es klingelte zum Unterrichtsende. Laura packte sofort ihre zwei Dinge zusammen und wollte so schnell wie möglich verschwinden. Doch Frau Zwahlen hielt sie zurück: „Laura, du bleibst bitte noch einen Moment hier!“ Laura lehnte sich an ihr Pult und starrte gelangweilt zum Fenster hinaus. Man sah nichts weiter als einen Baum und ein Fussballfeld für den Sportunterricht und die Fussballmannschaft. „So kann es nicht weitergehen“, begann ihre Klassenlehrerin bestimmt. „Du kommst fast jeden Tag zu spät zum Unterricht, du provozierst deine Lehrer, du machst im Unterricht nicht mit, du schreibst jämmerliche Noten und du machst jede Menge Probleme neben der Schule, wie ich gehört habe.“ Frau Zwahlen seufzte bedrückt, als wären Lauras Probleme die ihren. Laura schwieg, sollte diese alte Frau sich doch Sorgen um sie machen, verstehen würde Frau Zwahlen sie ja trotzdem nicht. „Kann ich dann gehen?“, fragte Laura desinteressiert. Frau Zwahlen nahm noch einen Anlauf: „Wieso sprichst du mit niemandem über deine Probleme? Es sieht schliesslich jeder, dass dir etwas auf dem Herzen liegt. Du kannst mir vertrauen, Laura!“ Ohne ein weiteres Wort verliess das siebzehnjährige Mädchen das Schulzimmer und machte sich auf den Weg in ihr zweites Zuhause.

„Hallo Laura!“, begrüsste Carmela sie freundlich und nahm sie in die Arme. „Wie geht’s meinem kleinen Mädchen?“, fragte Pedro und hob die nur eins sechzig grosse und fünfzig Kilo schwere Laura ohne Probleme hoch. Als sie wieder herunter gelassen wurde, konnte sie sich nicht mehr bewegen, weil ein kleines Mädchen ihr Bein festhielt und sie von unten her frech anblickte. Laura hob das ungefähr dreijährige Mädchen hoch und drehte sich ein paar Mal mit ihr um die eigene Achse. Rica, das kleine Mädchen kreischte vor Freude und klammerte sich an Laura fest. Carmela, Pedro und ihr Kind Rica waren für Laura wie eine zweite Familie.

„Kann ich mit der Arbeit beginnen?“, fragte Laura fleissig und ging ins Haus. Pedro gehörte die Bar in dieser Strasse, sie hiess Rica, wie seine Tochter. Laura arbeitete seit mehreren Jahren in dieser Bar nach der Schule. Anfangs nur als Putzhilfe, als sie älter wurde allerdings auch in der Bedienung. Jeden Mittwoch, wie heute, putzte sie gründlich. Dafür brauchte sie schon mindestens zwei Stunden. Zuerst entstaubte sie alles, danach staubsaugte sie, nahm den Boden nass auf, putzte die Toiletten gründlich und wusch die Fenster. Als sie damit fertig war, war es erst halb fünf. Die meisten Leute kamen entweder gegen fünf, sechs Uhr oder acht, neun, zehn Uhr. Sie konnte also ruhig noch einen Moment mit Rica einen Spaziergang machen. „Rica!“, rief sie nach oben in die Wohnung der Besitzer. Sofort ertönte das erfreute Quieken und nach wenigen Sekunden erschien eine strahlende Rica. „Lust auf einen Spaziergang?“, fragte Laura das kleine Mädchen lächelnd. Das musste man Rica nicht zweimal sagen. Die drei-jährige gab ihrer Freundin schön die Hand und sang fröhlich ein Lied. Der Spielplatz in der Nähe war leer, keine Menschenseele war dort. Laura liess sich auf die Bank fallen und sah Rica zu wie sie die Rutschbahn hochkletterte und runter schliff. Laura liess ihren Kopf in den Nacken fallen und genoss die Sonnenstrahlen in ihrem Gesicht. Plötzlich hörte sie Stimmen vor ihr und als sie die Augen öffnete, erschrak sie fast zu Tode. Zwei Jungs, die Laura vom sehen her kannte, standen vor Rica und redeten mit ihr. Der eine der Jungs begann laut zu lachen, als David, genannt Dave, dem kleinen Mädchen etwas ins Ohr flüsterte. Wie von der Tarantel gestochen sprang Laura auf, rannte auf das Grüppchen zu und rammte Dave ihren Ellbogen in den Magen. Ihr jahrelanges Boxtraining zu Hause hatte sich gelohnt. Dave krümmte sich vor Schmerz und fluchte nur: „Verdammte Scheisse. Was war das denn?“ Der Typ neben Dave wollte gerade wütend auf Laura losgehen, als diese ihm ins Gesicht boxte. Sie schlug ihn regelrecht zusammen, doch das geschah ihm recht, sie wusste was für ein mieser Typ er war. Als er auf dem Boden lag, nahm Laura die weinende Rica und ging so schnell wie möglich weg vom sich krümmenden Dave und seinem miesen Freund.

Carmela und Pedro kamen angelaufen, als sie Ricas Weinen hörten. „Ist etwas passiert?“, fragten sie besorgt. „Nein, ist schon gut“, stotterte Laura, die noch immer geschockt war, und fragte, ob sie einen Moment alleine sein könnte. Sie ging ins Nebenzimmer der Bar und setzte sich auf die Couch.

Nach einer Viertelstunde verliess Laura von neuem den Raum. Es schien ihr wieder besser zu gehen, doch Carmela und Pedro spürten, dass es Laura nicht sonderlich gut ging. „Laura, wenn du willst, kannst du nach Hause gehen. Hier ist sowieso nicht so viel los, es ist Mittwochabend“, schlug Pedro vor. „Mir geht es gut, wirklich!“, widersprach Laura und lächelte zum Beweis. Carmela war nicht dumm, aber wenn Laura sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man sie nicht so leicht umstimmen und so blieb Laura. Es war wirklich nicht viel los diesen Abend. Laura machte sich schon um zehn Uhr auf den Weg nach Hause. Wie immer brachte Pedro sie mit seinem Auto nach Hause. „Danke Pedro“, bedankte sich Laura und öffnete sie Tür. „Du weißt, dass du uns immer vertrauen kannst, Laura!“, antwortete Pedro und sah sie ernst an. „Ich weiss! Danke!“, wiederholte Laura und lächelte Pedro dankbar an. Dann verschwand sie im schönen, grossen Haus, das ihrem Stiefvater gehörte. Es war ruhig, sie hörte nur das leise Schnarchen von Torsten, ihrem Stiefvater.






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