Niedereichenbach - und ich mittendrin - Teil 6

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 26.01.2011


Am nächsten Morgen öffnete ich vorsichtig die Tür zum Gang und spähte hinaus. Niemand war zu sehen. Gut. So etwas peinliches wie am Vortag sollte mir nicht noch einmal passieren.
Plötzlich öffnete sich doch die Tür von Waschraum und Maciek trat heraus, diesmal allerdings in einem schwarzen Bademantel.
“Dobry rano! Guten Morgen. Kein Angst, Ich habe das …”, er deutete auf den Bademantel. “… von Olek.
“Gschdi jest moj Schlafrock? Maciek?”, rief Olek verschlafen aus dem Zimmer.
“Schlafrock?”, fragte ich und lachte.
“Ja, das polnisch: Schlafrock. S-Z-L-A-F-R-O-K.”, erklärte er mir.
“Es ist ein altes deutsches Wort.”, sagte ich. “Von Schlafen und Rock. Das ist ein Rock!” Ich zeige auf meinen Jeansrock.
Maciek lachte auch und sagte dann: “Ich muss jetzt gehen. Olek ist sehr böse, wenn ich habe seine Kleidung.”
Zur Bekräftigung schrie Olek laut: “Gbur!”
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Lehrers und er begann schnell auf Polnisch zu schimpfen. Maciek trottete in sein Zimmer zurück.
Später, im Schulbus erzählte ich Andreas vom letzten Abend am Lagerfeuer.
“Ich habe Maciek erzählt, wie es mir geht mit der Sache mit meiner Mutter. Es hat sich einfach so ergeben. Ich glaube, wir sind so etwas wie Seelenverwandte. Er hat mich genau verstanden, weißt du, er hat nämlich ein ähnliches Problem mit seinem Vater. Der ist einfach abgehauen.”
“Aha.”, bekam ich zur Antwort.
“Und er hat mir von seinen Reisen erzählt, weißt du, seine Mutter muss oft geschäftlich weg und da nimmt sie ihn mit. Er war zum Beispiel einmal in Portugal. Oder in Vietnam. Da möchte ich auch einmal hin. Wir haben uns über Münster unterhalten, da war er auch schon mal. Vielleicht sind wir sogar in der Stadt aneinander vorbei gelaufen. Irre, oder?”, fragte ich.
“Ja. Echt irre.”, sagte er, wenig begeistert.
“Was ist denn los? Hattest du keinen guten Morgen?”, erkundigte ich mich.
“Doch. Alles in Ordnung.”, beruhigte er mich und küsste mich völlig unerwartet. Vor all den anderen im Schulbus. So öffentlich hatte er mich bis dahin noch nie geküsst. Ich umarmte ihn fest und küsste ihn auch. Anne grinste mich an.
Später, in der Pause unterhielt ich mich mit ihr darüber.
“Oh mein Gott. Hast du gesehen, wie die alle geguckt haben?”, fragte sie.
“Ne, ich war irgendwie anderweitig beschäftigt…”, ich grinste. “Aber irgendwie war Andreas so komisch davor. Er war so kurz angebunden, und schien irgendwie genervt oder angestrengt.”
“Klar, der war einfach total aufgeregt und hat überlegt, ob er das wirklich machen soll, so in dem vollen Bus, wo alle es sehen können.”, beruhigte sie mich. “Ist doch logisch, oder?”
“Ja, irgendwie schon.”, gab ich zu.
An diesem Nachmittag war Sven, der wieder gesund geworden war, mit Macieks Klasse auf einer Wanderung im Wald.
Aber Andreas hatte endlich einmal wieder Zeit für mich. Wir gingen zu ihm nach Hause, bei mir waren wir eigentlich nie, da er ja diese schlimme Katzenhaarallergie hatte und darum mein Zimmer nicht betreten konnte, ohne Atemnot, tränende Augen und Niesanfälle zu bekommen.
Wir sahen uns einen Film auf DVD an und aßen selbst gemachtes Popcorn. Solches “Pärchen- Zeug” hatte ich mir Finn auch oft gemacht, aber mit Andreas war es sehr viel schöner. Er war irgendwie verständnisvoller als Finn, also, weniger Macho. Und ich spürte, dass er mich wirklich mochte. Das machte mich glücklich. Wenn ich mich mit ihm traf, erfasste mich immer eine Art Hochgefühl, das manchmal noch mehrere Stunden später anhielt.
“Sara, du weißt, dass ich dich sehr mag, oder? Ich liebe dich.”, flüsterte er plötzlich.
“Ich dich auch.”, gab ich ihm zur Antwort.
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Der nächste Tag verlief nicht so gut.
Es fing damit an, dass ich Maciek auf dem Flur traf, wieder in Olek Bademantel. Olek beschwerte sich diesmal nicht, denn er schlief noch.
“Du siehst gut.”, begrüßte Maciek mich.
“Was?”, ich sah in irritiert an. Beim Augenarzt hatte man herausgefunden, dass ich 130% Sehstärke hatte, aber das konnte Maciek ja unmöglich wissen.
“Kleid gut, schöne Farbe für rote Haare und ich mag grün.”, sagte er schlicht und zeigte auf mein hellgrünes Kleid.
“Ach so. Danke. Aber du musst sagen: Du siehst gut aus.”, erklärte ich ihm.
“Gut. Danke. Schönes Schule heute!” Dann verschwand er in seinem Zimmer.
Ich ging zum Frühstück, holte anschließend meine Tasche und machte mich mit Simon auf den Weg zur Schulbushaltestelle auf dem Dorfplatz
Wir waren noch nicht einmal bei Andreas’ Haus, als mir plötzlich schwindelig wurde. Ich wollte noch Simon bitten, kurz stehen zu bleiben, doch da wurde mir auch schon schwarz vor Augen. Ich kippte um und rollte einen kleinen Hügel hinunter. Das alles weiß ich nur, weil Simon es mir hinterher erzählt hatte. Allerdings war ich so unglücklich gefallen, dass ich mir das Bein gebrochen hatte.
Ich musste ins Krankenhaus, wo ich geröntgt wurde und schließlich einen Gips bekam. Bei meinem Schwindelanfall hatte es sich lediglich um einen Kreislaufkollaps gehandelt. Ich hatte zu niedrigen Blutdruck gehabt.
In meinem Alter passiere das öfter, beruhigte der Arzt meinen Vater. Allerdings würden die meisten nicht gleich so umfallen, dass sie dann ein angebrochenes Bein hätten.
Der Arzt meinte, ich könne schon wieder nach Hause gehen, wenn ich wolle, doch mein Vater ließ mich zur Sicherheit über Nacht noch im Krankenhaus. Am nächsten Tag, dem Freitag, lag ich eigentlich nur im Bett. Ich musste nicht zur Schule gehen, also las ich und schmuste mit Ataïr. Um 13.00Uhr aß ich mit den Gästen und meinem Vater Mittag, der immer noch sehr besorgt um mich war. Mit den neuen Krücken kam ich allerdings besser voran, als gedacht.
Maciek wünschte mir gute Besserung und schenkte mir einen polnischen Keks, den er mitgebracht hatte. Später unterhielt ich mich mit Milka (auf Englisch, sie konnte nicht so gut deutsch), sie ärgerte sich darüber, dass Olek zu wenig Zeit mit ihr verbrachte, und sagte es ihm dann auch. Am Ende des Tages hatten Milka und Olek sich wieder vertragen und lagen sich in den Armen und ich fühlte mich irgendwie überflüssig. Zum Glück kam Andreas vorbei, um nach mir zu sehen. Er hatte sogar ein paar Blumen dabei.
Wir beide hatten völlig vergessen, dass es ziemlich ungünstig war, wenn er zu mir ins Zimmer kam. Erst, als wir es schon betreten hatten, begann er zu niesen und es fiel uns wieder ein. Danach musste er schnell nach Hause, sein Geicht war innerhalb von Sekunden zu geschwollen und er konnte kaum noch atmen.
Also alles in allem, kein sehr spannender Tag.
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“Hallo!”, begrüßte mich Maciek am nächsten morgen. “Wie gehst du?”
“Ich gehe schlecht, mein Bein ist kaputt, aber mir geht es gut.”, antwortete ich.
“Hä? - Ahhhh, ja ich habe vergessen, wie man richtig sagen muss.”
“Was machst du heute noch?”, fragte ich.
“Was ich will. Es ist meine letzte Tag, also jeder macht, wie er will.”, sagte er.
“Oh, ich hatte ganz vergessen, dass du morgen schon weg fährst.”, stellte ich bestürzt fest.
“Ein bisschen bin ich traurig. Aber wir können schreiben Briefe und e-mail, vielleicht?”, schlug er vor.
“Ja, das machen wir. Und heute machen wir etwas zusammen, wenn du willst.”
“Ja. Gut.”, stimmte er mir zu.
Wir hatten uns gerade auf die Wiese vor dem Haus gesetzt, um den Tag zu planen, da sah ich Andreas den Weg entlanggehen. Er kam zu uns herüber.
“Guten Tag.”, sagte Maciek höflich.
“Andreas, das ist Maciek, Maciek, das st Andreas, mein Freund.”, stellte ich die beiden einander vor.
“Hallo.”, murmelte Andreas entnervt. Dann sah er mich an. “Ich wollte fragen, ob du heute mit mir ins Kino gehen willst.”
Ich sah zu Maciek hinüber.
“Du kannst gehen, wenn du willst.”, erklärte er sofort.
“Wie überaus freundlich!”, meinte Andreas gereizt. Ich konnte nicht verstehen, was er schon wieder hatte.
“Ich wollte eigentlich etwas mit Maciek machen.”, sagte ich ehrlich. “Wir können auch zu dritt etwas unternehmen, wenn du willst. Aber morgen fährt er weg und dann sehen wir uns nicht mehr. Er will mich vielleicht in seinen Winterferien mal besuchen kommen. Aber das dauert ja noch so lange.”
“Nein, ich verzichte auf gemeinsame Unternehmungen. Vielen Dank!”, sagte er.
“Was ist denn los mit dir?”, fuhr ich ihn an. “Warum bist du so unfreundlich?”
“WAS MIT MIR LOS IST? Die Frage ist wohl eher, was mit dir los ist. Seid dieser Pole hier aufgetaucht ist, redest du doch nur noch von ihm! Er war in Münster, er versteht dich, weil sein blöder Vater abgehauen ist, er verreist, Pole hier, Pole da.
Es tut mir ja Leid, dass ich dich in deinen Problemen mit deiner Mutter nicht verstehen kann, was aber vielleicht daran liegt, dass du mir NIE etwas erzählt hast!”, schrie er. Ich war entsetzt.
“Und weißt du was? Ich habe zwar mein ganzes Leben in diesem Dorf verbracht, ich war vielleicht nie in Münster oder in Portugal oder wo auch immer! Und ja, meine Eltern sind glücklich zusammen! Aber dafür kann ich doch nichts. Ich kann dir auch noch was sagen: Mach doch mit deinem Polen auf heile Welt, ihr seid ja immerhin seelenverwandt! Mich bist du jedenfalls los!!!”. Damit drehte er sich um und stapfte mit energischen Schritten davon.
“Nawóz...”, sagte Maciek, als er in mein völlig entsetztes Gesicht blickte.
“Ich sagen ihm Wahrheit. Ich mache alles gut!”, rief er dann und setzt sich in Bewegung.
“Halt! Maciek, Stopp! Du weißt ja gar nicht, was los ist!”, versuchte ich, ihn zurück zu halten. Das er hinter Andreas her rannte, würde die Sache auch nicht ändern. Im Gegenteil. Vielleicht würde es dadurch nur noch schlimmer werden, als es ohnehin schon war.
“Habe ich genug verstanden, also ich weiß, was los ist!”, versicherte er mir und lief in die Richtung, in der Andreas verschwunden war.

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es geht so schnell wie möglich weiter :)





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