Niedereichenbach - und ich mittendrin - Teil 3

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 21.01.2011


“Au…”, stöhnte ich und besah mir meine blutende Hand.
“Entschuldigung!”, rief der Typ aus, den den Korb fallengelassen hatte. Er hatte blondes Haar, trug ein weißes T-shirt und um seinen Hals baumelte eine Kette mit einem nachgebildeten Tierzahn (also, ich nahm zumindest an, dass der nachgebildet war).
Hektisch legte er Hosen, T-shirts, Oberhemden und Unterwäsche wieder in seinen Korb zurück. Ich half ihm mit der linken Hand, die rechte blutete immer noch stark und ich wollte ihm die Sachen nicht schmutzig machen. Irgendwie war ich ja auch Schuld an dem Zusammenstoß, der Junge hätte ja nicht ahnen können, dass irgendjemand mitten auf der Straße hockte.
“Danke.”, sagte er, als ich ihm das letzte paar Socken reichte. “Sag’ mal, bist du die Schwester von Simon Groth?”
“Ja. Woher weißt du das?”, wollte ich wissen.
“Er ist eine Klasse unter mir und wir arbeiten beide bei der Schülerzeitung. Er hat mal gesagt, dass seine Schwester in den Sommerferien her zieht. Ich finde, man sieht euch an, dass ihr verwandt seid.”
“Ja, ich bin Sara, Simons Schwester.”, erklärte ich noch einmal.
“Andreas.”, stellte er sich vor und wollte mir aufhelfen, dann sah er meine Hand.
“Sollte das vielleicht verbunden werden?”, fragte er.
“Nein, das ist schon gut. Nicht so wichtig.”, antwortete ich. Allerdings blutete es schon heftig. “Aber hast du vielleicht ein Taschentuch?”
Er kramte hektisch in seiner Hosentasche und brachte tatsächlich ein sauberes Taschentuch zu Tage.
“Ich glaube es wäre wirklich besser, wenn du kurz mitkommst. Meine Eltern arbeiten in der Arztpraxis hier um die Ecke, meine Mutter gibt dir ein Pflaster.”, sagte er bestimmt.
Ich wusste von früher, dass mein Vater überbesorgt war, und mich ohnehin zum Arzt schicken würde, wenn er die große Schürfwunde sah, also lies ich mich doch überreden und lief mit ihm mit.
Der Junge namens Andreas hob seinen Wäschekorb wieder auf und wir liefen nebeneinander zur Praxis seiner Eltern. Soviel ich wusste, war sie die Einzige innerhalb der nächsten drei Dörfer.
Das Wartezimmer war völlig leer. Hinter dem Empfangstresen saß eine blonde Frau und sortierte ein paar Karteikarten. Sie blickte auf und machte ein entsetztes Gesicht.
“Andreas! Was hast du mit der Wäsche gemacht”, rief sie und deutete auf den Korb mit der zerknüllten Kleidung, die vor unserem Zusammenprall vermutlich ordentlich zusammengelegt gewesen war.
“Ich habe ein Mädchen umgerannt. Die Wäsche ist noch völlig sauber Mutti, aber ich wollte fragen, ob sie vielleicht ein Pflaster haben kann.”, erklärte Andreas.
Ich hob schüchtern meine Hand. Dabei wurde mir erst einmal bewusst, wie stark ich blutete und schlagartig mir wurde etwas schwindelig.
“Oh, Moment, ich hole sofort etwas! Das sieht ja schlimm aus!”, sie war offensichtlich nicht mehr sauer wegen ihrer Wäsche. Nachdem sie aus einem Schrank Desinfektionsmittel und ein riesiges Pflaster geholt hatte, wurde ich im Wartezimmer “verarztet”.
“Ist irgendwas? Du bist ein bisschen blass?”, erkundigte sich Andreas.
“Nein, nein, jetzt, wo das Blut weg ist, geht es wieder gut.”, sagte ich. Mir ging es wirklich viel besser. Schwindelig war mir überhaupt nicht mehr.
“Ich gehe noch ein Stück mit dir mit.”, sagte Andreas, als wir wieder auf der Straße standen.
Schweigend liefen wir nebeneinander her.
“Was machst du eigentlich sonst noch so, wenn du nicht Wäsche durch die Gegend trägst oder fremde Mädchen zum Arzt bringst?”, fragte ich ihn irgendwann.
“Naja, das mit der Wäsche ist eher Zufall. Unsere Waschmaschine ist kaputt, darum hatte ich das ganze Zeug zu meiner Oma zum Waschen gebracht und musste es heute wieder abholen. Ansonsten mache ich… nicht viel. Morgen gehe ich mit ein paar Freunden schwimmen. Du kannst ja mitkommen, wenn du willst.”, schlug er vor.
“Klar gern. Wann und wo?”, fragte ich erfreut.
“Vielleicht um drei im Waldbad? Ich denke, Simon kann dir sagen, wie du dort hinkommst.”
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Der Rest des Tages verlief eher ereignislos. Ich schrieb eine e-mail an meine Mutter, jedoch war ich mir bewusst, das sie sie vermutlich nicht einmal öffnen würde.
Am Nachmittag half ich Harald ein bisschen im Garten und las in meinem Lieblingsbuch und abends dachte ich noch lange über meine Begegnung mit Andreas nach. Er war recht nett und ich freute mich darauf, am nächsten Tag mit ihm Schwimmen zu gehen. Vielleicht konnte ich unter den andern, die noch kommen wollten, ein paar Freunde finden.
Mir fiel auf, wie schnell ich mich eingelebt hatte. Ich hatte nicht das Gefühl erst einen Tag in Niedereichenbach zu sein.
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Am nächsten Morgen wurde ich wieder von meiner inneren Uhr geweckt. Es war genau 08:01Uhr. Ich zog mich an, wusch mich und überlegte, ob ich wieder für einen Morgenspaziergang aus dem Fenster klettern sollte. Allerdings entschied ich mich dagegen. Mir war aufgefallen, dass ich bis jetzt von dem Haus, in dem ich für die nächste Zeit wohnte, erst mein Zimmer, das Bad und des Speisesaal gesehen hatte. Das musste sich schleunigst ändern.
Ich verlies unseren “Privatbereich”, ging an den Waschräumen vorbei. Ich sah kurz in den Mädchenwaschraum, nur interessehalber. Aus dem Jungenwaschraum waren bereits Stimmen zu hören, also öffnete ich die Tür wohlweislich nicht. Dann lief ich am Speisesaal vorbei zu den Treppen. Zuerst ging ich nach oben. Aber in der zweiten Etage erwartete mich nichts besonderes. Eine nummerierte Tür neben der anderen und ungefähr in der Mitte die Waschräume. Ich ging noch ein Stockwerk weiter. Hier sah ich genau das selbe, wie in der darunterliegenden Etage.
Ich wusste, dass es noch ein Stockwerk gab, mit den Zimmern von Sven und Jutta, aber der Treppenaufgang war mit einer Tür versperrt. So ging ich wieder hinunter und, wo ich einmal dabei war, in den Keller. Hier gab es rechts einen groß Raum mit an der Wand gestapelten Stühlen, einem Fernsehbildschirm mit DVD-Player und sogar eine Tischfußballplatte.
Auf der anderen Seite musste es noch einen Raum geben, aber er war verschlossen. Später erfuhr ich, dass es der Vorratskeller war.
Ich spielte noch ein bisschen mit mir selbst Tischfußball, dann ging ich zurück in mein Zimmer. Ich musste erst mich noch daran gewöhnen, jedes Mal, wenn ich das Zimmer verlies auf irgendwelche wildfremden Typen zu stoßen. Auch der Krach, der den ganzen Tag zu hören war, war neu für mich. Ich hatte mir das Leben in einer Jugendherberge irgendwie anders vorgestellt. Irrtümlicherweise hatte ich geglaubt, dass ich viele neue Leute von überall her kennen lernen könnte, aber die Gäste schienen sich nicht für mich zu interessieren. Im Gegenteil. Sobald ich beispielsweise an einer Gruppe von Gleichaltrigen vorbei kam, die witzelten oder sich unterhielten, drehten sie sich plötzlich um, oder hörten auf zu sprechen. Ich nahm an, sie sahen mich nur in meiner Rolle als Tochter des Herbergsvaters.
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Am Nachmittag machte ich mich mit Simon auf den Weg ins Waldbad. Er hatte sich kurzfristig entschlossen, mich zu begleiten. Wir nahmen die Fahrräder. Er hatte ein eigenes und ich benutzte eines, das eigentlich den Gästen zum Ausleihen zur Verfügung stand, da meines noch in Münster stand.
Als wir am Waldbad ankamen, war Andreas bereits da, und mit ihm der schwarzhaarige Kai aus seiner Klasse, ein ziemlich hoch gewachsener, blonder Typ namens Michael und seine brünette Schwester Anne, die in Simons Klasse ging und später auch in meine Klasse gehen würde. Sie war ebenfalls sehr groß und überragte sogar Simon um ein kleines Stück.
Andreas legte sein Handtuch zwischen meines und das von Michael und begann sich mit mir zu unterhalten. Simon war zu den Umkleidekabinen gegangen, um sich seine Badehose anzuziehen, ich hatte meinen blau-schwarzen Bikini schon unter meine Kleidung gezogen.
“Woher kommst du eigentlich?”, fragte er.
“Aus Münster.”, sagte ich.
“Und dann kommst du hier in ein Brandenburger Dorf?”, fragte er.
“Mein Vater lebt hier und mein Bruder auch.”, antwortete ich ihm.
“Warum bist du nicht bei deiner Mutter geblieben? Also, versteh mich nicht falsch, ich find’s gut, dass du hier bist. Es interessiert mich nur.”
“Sei mir nicht böse, aber… Darüber will ich nicht reden. Zumindest jetzt nicht.”, erwiderte ich. Ich wollte nicht zu viel von mir preisgeben, wo wir uns doch erst seid einem Tag kannten.
“Ok. Geht mich ja auch nichts an.”, meinte er. Allerdings war er nicht beleidigt über meine ausweichende Antwort, was ich ihm hoch anrechnete. Eine Weile schwiegen wir.
“Kommst du mit schwimmen?”, fragte er schließlich.
“Klar”, gab ich ihm zur Antwort.
Der Boden unter meinen Füßen war glitschig und ich wäre im kühlen Wasser fast ausgerutscht. Simon und Anne waren auch im Wasser, genau wie Michael, nur Kai machte keine Anstalten, mit hinein zu kommen. Wir bespritzten uns mit Wasser und tauchten uns gegenseitig unter. Irgendwann fing Michael einen dicken Frosch und hielt ihn seiner Schwester vor die Nase, die kreischte und damit allgemeines Gelächter auslöste.
“Kai, komm doch mit ins Wasser”, rief Anne, als sie endlich wieder zu Atem kam.
“Och, nö… keine Lust”, rief dieser.
“Kai ist extrem wasserscheu.”, erklärte mir Simon. “Ich frage mich, wie er es schafft, sich morgens zu waschen.”
“Vermutlich gar nicht…”, rief Kai uns ironisch zu, der alles mit angehört hatte, dann kam auch er zu uns ins Wasser.
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In der nächsten Zeit unternahmen wir viel gemeinsam, und ich freundete mich mit Anne an. Schon nach kurzer Zeit redeten wir über alles. Auch ihr blieb nicht verborgen, was mir schon seid längerem aufgefallen war: Andreas schien mich zu mögen. Nicht nur, das er ständig um mich herum war, er verhielt sich irgendwie anders in meiner Gegenwart, sagte sie. Ich dachte darüber nach, ob das wirklich so gut war. Ich wusste nicht, ob ich nach der Sache mit Finn so schnell wieder einen festen Freund haben wollte. Darum ging ich auf seine deutlichen Annäherungsversuche nicht ein. Ich mochte Andreas zwar sehr und war mir sicher, dass er Mädchen nicht mit deren eigener Freundin betrügt, wenn sie nicht mit ihm schlafen wollen. Allerdings - hatte ich das bei meinem Exfreund nicht auch gedacht?
Wir hatten schon eine Menge Spaß zusammen, Andreas und ich. Wir jagten uns über den Heuboden von Kais Eltern, die Milchbauern waren, bis Kais Opa kam und damit drohte, Andreas den Hosenboden zu versohlen, weil er ihm das Heu zerdrückt hätte.
Wir trafen uns auch mehrmals zu zweit, ohne die anderen aus unserem Grüppchen. Einmal beobachtete ich, wie er an unserem Haus vorbeiging. Ich dachte mir nichts dabei, doch als ich, zwei Minuten später, wieder aus dem Fenster sah, sah ich ihn abermals vorbeigehen, aus der selben Richtung kommend. Ich beobachtete ihn eine Weile und stellte fest, dass er immer hin- und her lief. Also ging ich hinaus, vielleicht wartete er ja auf Simon oder mich.
“Hey, so eine Überraschung!”, rief er aus, als er mich sah. “Ich komme gerade von Michael und genau, als ich hier vorbeigehe, kommst du heraus.” Ich konnte mir das Grinsen gerade noch so verkneifen. Nicht nur, dass ich ihn gesehen hatte, es war auch ziemlich klar, dass er schauspielerte.
“Ja, ich wollte zufällig gerade zum Bäcker.”, sagte ich und bemühte mich um Glaubwürdigkeit. Ich wollte sein Spielchen ungern auffliegen lassen, das wäre sowohl für ihn, als auch für mich sehr peinlich geworden.

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Ich war froh gewesen, so schnell Freunde gefunden zu haben. Anfangs hatte ich etwas Angst gehabt, mich in der neuen Schule nicht zurecht zu finden, doch nun hatte sich diese Angst gelegt. Es waren noch drei Wochen bis Schuljahresbeginn und der einzige Grund, weswegen ich diesem Tag mit Schrecken entgegensah, war, dass es das Ende der schönen, unbeschwerten Ferienzeit bedeuten würde. Genau am Sonntag, drei Wochen vor Ende der Ferien, bekam ich mein Kätzchen. Ich hatte es mir bei einem Bauern aussuchen dürfen, dessen Katze fünf Junge geworfen hatte. Meine Katze, die eigentlich ein Kater war, war bis zum bauch ganz weiß und dann getigert, bis auf den Schwanz, der wieder weiß war. Es sag drollig aus, so als trüge er Latzhosen. Ich nannte ihn Ataïr, nach einem hellen Stern im Sternbild Adler. Er hatte ein Körbchen in meinem Zimmer, doch das benutzte er nicht. Er schlief in meinem Zimmer, immer an einer anderen Stelle. Besonders mochte er meinen Sessel.
An dem Tag, als Andreas und ich uns näher kamen, war Ataïr schon zwei Wochen bei uns und zum ersten Mal allein draußen unterwegs. Unerlaubt. Eigentlich sollte er sich erst bei uns eingewöhnen, bevor er das Haus verlassen durfte, doch er war durch ein offenes Fenster im Speisesaal entwischt. Ich war natürlich sofort hinterher gelaufen und hatte ihn mit seinem Futternapf angelockt und wieder eingefangen. Genau in diesem Moment kam Andreas um die Ecke.
“Hey, ich wollte nur mal vorbeisehen! Geht dein Kater schon raus?”, fragte er.
“Eigentlich noch nicht.”, antwortete ich. “Aber so wie es aussieht, möchte er gerne. Es wird Zeit, dass wir ihn daran gewöhnen, dass er sich bald eingewöhnen kann.”
“Oh, so ein süßer…”, sagte Andreas und streichelte ihn.
“Du magst Katzen?”, fragte ich, setzte meinen Kater durch mein geöffnetes Fenster wieder hinein und schloss das Fenster von Außen. Vorwurfsvoll maunzend sah er mich durch die Scheibe an.
“Ja, klar, ich liebe- Hatschi! - Also, ich meine - Hatschi!, Katzen sind doch total niedlich und flauschig - Hatschi! Hatschi!”, keuchte er und nieste unentwegt. Ich sah ihn fragend an und war schon fast besorgt, denn er schien keine Luft mehr zu bekommen.
“Ok. Du hast mich- Hatschi! - erwischt. Ich habe eine richtig starke Tierhaarallergie. Hatschi!!! Komm mir bloß nicht zu nahe, du.”, sagte er und sah Ataïr vorwurfsvoll durchs Fenster an. “Hast du vielleicht ein Taschentuch?”, fragte er. Die Augen tränten ihm.
Ich ging hinein und holte eines.
Nach und nach hörte Andreas’ Niesanfall auf und wir gingen eine Weile gemeinsam die Straße entlang.
"Hör mal...", sagte er unvermittelt. "Ich wollte schon lange mit dir über eine Sache sprechen. Also, es ist so. Ich bin diesmal nicht zufällig vorbeigekommen."
"Warum bist du dann gekommen?", fragte ich, nichts ahnend. Ich dachte, er wolle mit mir Eisessen gehen oder schwimmen, wie wir es schon oft getan hatten. Er hatte auch einmal vorgeschlagen, in die nächstgelegene Kleinstadt ins Kino zu gehen.
"Ich hab' keine Erfahrung in solchen Dingen...", er bog ab auf den Feldweg Richtung Waldbad. Ich folgte ihm.
"Also.", plötzlich blieb er stehen. "Vielleicht hast du es ja gemerkt. Ich habe immer versucht, es dir irgendwie zu zeigen. Aber du hast das irgendwie ignoriert. Nicht, dass ich dir jetzt Vorwürfe machen will oder so… Ach, Mist, ich bin einfach nicht gut in so was.”, er spielte an seiner Zahn-Kette herum.
“Was ist denn?”, fragte ich, mittlerweile wohlweislich, was er sagen wollte. Langsam bekam ich Panik, die sich mit dem Kribbeln im Bauch vermischte. Ich hatte da starke Bedürfnis schreiend wegzulaufen und dennoch blieb ich stehen und hörte ihm zu. Ich war wie gefesselt von dem, was er gleich sagen würde.
“Ich finde dich eben ganz nett und… nein, das war jetzt nicht richtig. Ich finde dich eben mehr als nur nett und wollte, dass du das weißt. So. Du bist dran.”, sagte er, und sah mich aus seinen braunen Augen erwartungsvoll an.
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fortsetzung folgt in kürze





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