Winternachtstraum - Teil 4

Autor: Addielein
veröffentlicht am: 29.03.2011


Am nächsten Morgen untersucht der Arzt mich noch mal. Ich lasse alles kommentarlos über mich ergehen und sage auch nichts, als er mich für völlig gesund erklärt. Bis auf die Platzwunde an meiner Stirn eben, auf der jetzt ein schönes weißes Pflaster klebt.
„Ich denke, ich kann Sie guten Gewissens entlassen, Frau Andala“
„Das denke ich auch“ murmele ich und schwinge die Beine aus dem Bett und gehe zum Schrank, in dem mein Koffer und meine Handtasche stehen. Auf den Doktor achte ich gar nicht mehr. Ich hole meine schwarze Jeans aus dem Koffer, meine dunkelblaue Sweatjacke und schaue erst jetzt wieder zu dem Arzt: „Ich würde mich gerne umziehen“ sage ich und ich stelle mit einer gewissen Genugtuung fest, dass er leicht errötet. „Oh ja, natürlich. Ich gehe gleich. Ich frage mich nur, ob Sie jetzt klar kommen. Ich meine, ohne Auto. Sie kommen auch nicht von hier und…“ Er scheint sich wirklich Sorgen zu machen.
„Nett, von Ihnen, dass Sie sich Sorgen machen. Aber ich komme klar. Ich denke, mein Auto ist spätestens morgen wieder Startklar und dann fahre ich zurück. Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich hier bin“ gestehe ich. Warum ich es dem Arzt erzähle? Ich weiß es nicht.
„Wenn Sie meinen. Leben Sie wohl, Frau Andala“ Mit diesen Worten verlässt er das Krankenzimmer und ich bin allein. So allein, wie als Phillip mit mir Schluss gemacht hat. Allein – wie gestern.
Ich reiße mich aus meinen Gedanken und ziehe mich schnell an und werfe den hässlichen Krankenhauskittel unordentlich auf das Bett.
Zuletzt krieche ich nur noch in meine schwarzen Stiefel und schnüre sie zu, dann stehe ich auf, nehme meine Handtasche und meinen Koffer und verlasse so schnell wie möglich das Zimmer.
Auf dem Flur begegnet mir die Schwester, die mir mein Essen gebracht hat. Sie verabschiedet sich höflich und ich erwidere es. Sonst hatte ich keinen weiteren Kontakt mit irgendjemand anderen in dieser Klinik.
Ich bin schon im Foyer des Krankenhauses, als jemand meinen Namen ruft. Nicht meinen vollen Namen, sondern meinen Spitznamen. Ich überlege kurz, ob ich stehen bleiben, oder ob ich einfach weitergehen soll.
Ich bleibe stehen und drehe mich um.
Ramon kommt mit großen Schritten auf mich zu. Er trägt einen weißen Arztkittel und schaut mich fragend an: „Darfst du gehen?“
„Wurde soeben entlassen“ antworte ich wahrheitsgemäß.
Er lacht leise: „Du hast es aber eilig“
„Ich will einfach nur nach Hause“ brumme ich unfreundlicher als beabsichtigt.
„Lennard hat mich heute Morgen angerufen. Dein Auto kannst du vergessen“ erwidert er ehrlich und auch wenn ich damit gerechnet habe, so schockt es mich. Ich reiße die Augen auf und frage leise: „So wie mein Handy?“
„So in etwa“ Sein Blick wird entschuldigend.
Wir schweigen eine Weile. Wie soll ich jetzt nach Hause kommen? Wie soll ich Tom und Nina anrufen? Wie komm’ ich aus diesem Scheiß-Kaff wieder weg???
„Das erschwert Einiges“ sage ich schließlich und seufze leise.
„Wart’ mal kurz“ meint er und wendet sich von mir ab und geht auf die Frau zu, die hinter der Rezeption sitzt. Er erzählt ihr irgendetwas, sie wirft einen Blick in meine Richtung und nickt. Dann dreht Ramon sich wieder zu mir um und kommt auf mich zu: „Du kommst erst Mal mit mir mit“
„Mit zu dir?!“ Wieder reiße ich die Augen auf und schüttele dann mit dem Kopf: „Ich habe ich euch schon zu viele Unannehmlichkeiten bereitet“
„Ach, red’ keinen Unsinn“ Ich spüre seine Hand auf meinem Rücken, genau zwischen meinen Schulterblättern und mit sanftem Druck schiebt er mich mit sich mit. „Nur damit du deine Verwandten – oder wen auch immer – anrufen kannst“
Draußen schlägt mir eisig kalte Luft entgegen, vermischt mit vielen Schneeflocken.
„Perfektes Wetter zum Ski fahren“ meint Ramon und stupst mich dann in die Seite: „Du solltest es bei Gelegenheit mal lernen“
„Lieber nicht“ lehne ich ab und steige in dasselbe Auto wie gestern ein.
Ramon grinst nur und lässt sich neben mich fallen und zündet das Auto an. Er geht nicht mehr weiter auf das Thema ein, sondern zieht nur seinen Arztkittel aus und schaut dann zum Himmel: „Wollen wir hoffen, dass es mit dem schneien nicht schlimmer wird. Sonst wird der Zugverkehr lahm gelegt und die Straßen sind auch unbefahrbar“
„War das schon oft hier?“
„Es geht“
Das wäre mein schlimmster Albtraum: Gefangen in einem Kuhkaff namens Hérémence. Mit Liebeskummer, ohne Auto und ohne Handy.

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Vielleicht eine prunkvolle, weiße Villa, oder eine moderne Skihütte (wie diese Dinger auch immer aussehen) oder ein extravagantes Haus mit Panoramafenstern, die einen über die schneeweiße Landschaft staunen lassen.
Doch wir halten vor einem normalen Altbauwohnhaus, irgendwo in dem kleinen Städtchen Hérémence.
„Ich teile mir die Wohnung mit Lennard“ erklärt er und ich frage mich, warum er mir das erzählt.
„Ich dachte, du wohnst mit Melanie noch bei Papa“ erwidere ich mit einem spöttischen Lächeln.
Er beäugt mich misstrauisch von der Seite, während er die Tür aufschließt. Dann beginnt er zu lachen. Nur kurz und auch nicht laut. Es ist eher so ein leises Lachen. Phillip hat das auch immer gemacht.
Dann verstummt er wieder und schweigt und geht die Treppenstufen nach oben.
„Seit wann bist du schon Assistenzarzt?“ frage ich und breche damit das Schweigen.
Er zögert eine Weile, dann sagt er: „Noch nicht lange. Vielleicht zwei, drei Monate“
Dann kann er nicht sehr viel älter sein als ich. Ich betrachte ihn noch mal von der Seite und schätze ihn so auf 25; höchstens 26.
Er schließt die obere Wohnungstür auf und lässt mich als erstes eintreten. Sofort kommt mir Lennard entgegen, in der Hand irgendwelche Zettel und ohne von seinen Papiergewusel aufzuschauen, fängt er an zu reden: „Also, Ramona, meine Gute“ sagt er mit spöttischer Stimme. „Tabea hat angerufen. Ich….“ Er schaut auf und verstummt. „Ach, du bist auch hier?“ meint er und ich könnte schwören, dass er rot wird.
„Ich bin bald weg“ sage ich und ziehe meine Jacke aus.
Lennard wirft einen Blick aus dem Fenster – welches ein ganz normales Fenster ist. Kein Panoramafenster. „Uh… na da wünsch ich dir Glück“
„Es wir schon keinen Schneesturm geben“ meint Ramon zuversichtlich und fragt dann betont beiläufig: „Tabea hat angerufen?“
„Mhm“ erwidert Lennard. „Ruf’ sie doch an“
„Später“ war seine knappe Antwort, während er seine Schuhe auszieht.
Mein Blick fliegt von Ramon zu Lennard und ich hoffe, dass ich so bald wie möglich wieder zu Hause bin. Ich bin nicht in der Verfassung, um mich an neuen Bekanntschaften zu erfreuen.
„Was ist mit meinem Auto?“ frage ich deshalb ungeduldig.
Lennard schaut wieder von seinen Zetteln auf: „Schrott. Im wahrsten Sinne des Wortes“
„Scheiße!“ fluche ich. Ich fahre mir mit der Hand durch meine dunklen Locken und seufzte. „Kann ich mal telefonieren?“
Ramon nickt und zerrt sein iPhone aus der Hosentasche. Und mein erster Gedanke ist: Snob.
„Uh, nicht schlecht“ Ich grinse spöttisch und der Sarkasmus in meiner Stimme ist nicht zu überhören.
Ramon grinst selbstgefällig: „Sagt die, die ein Blackberry hat“
„Hatte“ verbessere ich ihn, füge dann aber hinzu: „Aber gut gekontert“ Ich wähle die Nummer von Tom, welche ich auswendig kann und schaue dann auf: „Wo kann ich telefonieren?“
Lennard zeigt gerade aus auf einen Raum, der wie ein Wohnzimmer aussieht. Ich nicke und gehe durch den Flur in das Zimmer. Zentral im Raum sticht mir sofort die schwarze Ledercouch ins Auge. Sie sieht teuer aus. Fernseher gibt es keinen. Nur eine gigantische Stereoanlage. Durch die Fenster habe ich einen Blick auf das verschneite Städtchen. Ich stelle mich ans Fenster und höre das gleichmäßige Tuten im Telefon. „Nehm ab, nehm ab!“ flehe ich flüsternd und nach dem dritten Klingeln höre ich Toms Stimme: „Jaaaa?“ Das Wort ist gedehnt und seine Stimme ist misstrauisch.
„Tom? Ich bin’s, Addie!“
„Addie. Um Gottes Willen…. Nina! Es ist Addie!“
Leise höre ich Ninas Stimme: „Addie? Geht es ihr gut?“
„Es geht mir gut“ antworte ich schnell.
„Wo bist du?“ fragt Tom neugierig.
„Frag’ besser nicht“
„Und ob ich frage! Wo bist du?!“
„Irgendwo in der Schweiz“ antworte ich zerknirscht.
„In der Schweiz?!“ ruft Tom und gleich darauf höre ich Nina: „Was macht sie denn in der Schweiz?“
„Ich weiß es selber nicht“ sage ich leise.
„Dann komm’ wieder nach Hause!“
„Geht nicht. Ich hatte einen Unfall. Mein Auto ist Schrott“ meine Stimme wird immer leiser, bis sie schließlich ganz an den Tränen zu ersticken droht.
„Du hattest –was?! Nina, sie hatte eine Unfall“
„Um Gottes Willen! Ist sie gesund?“
„Bist du gesund?“
Ein wenig muss ich über das Verhalten meiner Mitbewohner schmunzeln. „Ja, ich bin gesund. Ich komme hier nur nicht weg“
„Wir holen dich ab“ sagt Tom entschieden. „Wo bist du?“
„In Hérémence“ antworte ich und wische mir eine Träne von der Wange.
„Nina, google mal Hérémence!“
Eine Weile höre ich nur den gleichmäßigen Atem von Tom und das Tastaturgeklapper von Nina. Dann ihre Stimme: „Sag’ Addie, wir sind heute Abend da“
„Addie…“ setzt Tom an, doch ich unterbreche ihn: „Ich habe es verstanden. Vielen Dank ihr beiden“
„Wir lieben dich, Addie“ sagt Tom gerade heraus und ich weiß, dass er es ernst meint. Neben Annika sind die beiden meine besten Freunde – obwohl: Annika ist wohl rausgefallen.
„Ich liebe euch auch“ Mit diesen Worten lege ich auf. Ich weiß, dass die beiden heute Abend noch mal anrufen werden und verzweifelt nach der Adresse fragen werden.
Ich wische mit meinem Ärmel über das Display des iPhones und gehe dann durch den Flur, bis dort hin, wo die Stimmen herkommen.
Die Küche sieht ähnlich nobel aus, wie das Wohnzimmer. Dunkle Schränke, einen Esstisch aus Ebenholz. Eigentlich sollten all’ die dunklen Farben erdrückend wirken, doch das tun sie nicht. Aus welchen Grund auch immer.
Ich reiche Ramon sein Handy – ups… Entschuldigung, ich meinte natürlich sein iPhone.
„Danke“ sage ich leise und hoffe, dann man nicht sieht, dass ich kurz vor einem Heulkrampf stehe.
„Und? Jemanden erreicht?“ fragt Lennard neugierig und reicht mir eine Tasse Kaffee.
„Ja, meine Mitbewohner. Sie holen mich ab. Heute Abend seid ihr mich wieder los“ Ich versuche zu lächeln, doch ich schaffe es nicht.
Ramon schweigt und mustert mich misstrauisch.
„Du bist ganz nett. Dich muss man nicht loswerden, denk’ ich“ erwidert Lennard und reicht mir die Zettel, die er die ganze Zeit mit sich rumgeschleppt hat.
„Was soll ich damit?!“ fauche ich; vielleicht ein wenig zu unfreundlich.
„Du musst nur dort unterschreiben, wo die Kreuze sind“
„Wofür ist das?“
„Die Zulassung zur Zertrümmerung deines Autos“ antwortet Ramon mit seiner ruhigen Stimme.
„Dafür braucht man eine Zulassung?!“ Ich ziehe die Augenbrauen nach oben und schaue skeptisch.
„Anscheinend schon“ antwortet Lennard.
Ich zucke mit den Schultern, unterschreibe, ohne zu lesen, was ich unterschreibe und Lennard nimmt mir die Zettel wieder aus der Hand: „Ich kümmer’ mich drum“
Ich will protestieren, doch Lennard kommt mit zuvor: „Lass’. Das ist für mich schon okay. Immerhin hattest du gestern einen Autounfall“ Er zwinkert mir zu und geht.
Nur wenig später höre ich das Knallen der Haustür und ich lasse mich mit einem Seufzen auf einen der Stühle nieder und umklammere meine Kaffeetasse.
„Ist Kaffee okay oder willst du was Stärkeres?“ fragt Ramon und bevor ich antworten kann, dreht er sich von mir weg und schaut zum Regal an der Wand: „Wir hätten Wein, Sekt, Kirschwasser, Wodka, Amaretto…“
Ich unterbreche ihn: „Kaffee ist gut. Danke!“
Er dreht sich wieder zu mir um und lächelt; doch ich kann dieses Lächeln nicht deuten. Es ist irgendwie eine Mischung aus Spott und Überheblichkeit, aber es wirkt auf keinen Fall unfreundlich.
Ich erwidere das Lächeln und schaue aus dem Fenster. Der weiße Schnee fällt sanft zu Boden und es schneit so stark, dass ich kaum das Haus auf der anderen Straßenseite sehen kann.
Nina und Tom werden niemals ankommen. Vor allem wenn Tom fährt; seine Fahrkünste sind katastrophal.
Ich seh’s schon kommen. Ich werde in Hérémence bis zum Frühjahr versauern…






Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7 Teil 8 Teil 9 Teil 10


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz