Zufallstreffer

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 13.01.2011


Der Bus ruckelt gleichmäßig vor sich hin und das monotone Brummen des Motors schläfert mich ein. Das Stimmengewirr der anderen Fahrgäste, nehme ich nur im Hintergrund wahr.
Ich lehne meinen Kopf an die Scheibe und spüre das kühle Glas an meiner Stirn. Meine rotblonden, schulterlangen Haare sind mir ins Gesicht gerutscht, aber ich streiche sie nicht zurück. Ich bin nur noch müde.
Es ist Montag. Montag ist meiner Meinung nach der schlimmste Tag der ganzen Woche. Irgendwie hat sich in meinem Kopf sogar der Begriff “Montag des Grauens” festgesetzt.
Dafür gibt es viele Gründe. Die wichtigsten: Montags bin ich IMMER müde, weil ich am Sonntag Abend nicht einschlafen kann, ich habe nur blöde Unterrichtsfächer wie Mathematik, Physik und Biologie, die in Wirklichkeit ja gar nicht so schlimm sind, aber Montags hasse ich eben alles, wofür man denken muss.
Außerdem ist der Montag der erste Tag der Woche und es ist noch lange kein Ende abzusehen.
Das “Grauen” hört an diesem Montag allerdings zu Glück schon nach der Schule auf. Ausnahmsweise gibt es nur wenig Hausaufgaben für Dienstag und so kann ich mich am Nachmittag meinem grau-schwarzen Mopsmischling “Goethe” widmen. Vielleicht klingt es verrückt, aber er ist für mich genauso ein Teil der Familie wie zum Beispiel meine Eltern.
“Goethe” ist, um es mal so auszudrücken, ziemlich fett. Darum möchte ich heute mit ihm in einen Park fahren mit einer großen Wiese, wo er sich die überflüssigen Speckröllchen abtrainieren kann.
Fast hätte ich die Haltestelle verschlafen, hätte mir Goethe nicht plötzlich quer über die Haare geleckt.
Jaja, Montags gibt es eben nichts besseres als einen Haufen Hundesabber im Gesicht, denke ich und wische meine Stirn mit dem Handrücken ab.
Im Park angekommen lasse ich Goethe von der Leine. Andere Hunde würden sofort loslaufen und sich freuen, toben zu dürfen, doch Goethe scheint sich nicht dafür zu interessieren. Stattdessen läuft er gemächlich zu den Mülleimern und schnuppert nach etwas Essbarem.
“Goethe, pfui!”, schimpfe ich ihn aus. Mit gesenktem Kopf trottet er zu mir zurück und stupst mit der Nase gegen mein Bein. Wie eigentlich immer trage ich Jeanshosen.
Ich kenne zum Glück etwas, was den Dicken doch noch zum Laufen antreibt: einen kleinen, mit Hundekeksen gefüllten Ball. Den werfe ich mehrmals und Goethe muss rennen und ihn zurückholen. Irgendwann bekommt er dafür einen Leckerbissen aus dem Ball. Der Trick dabei ist, dass er nie weiß, wann.
Aber leider bemerkt mein Hund nach zehn Minuten, dass es ihm weniger bringt dem Ball hinterherzulaufen als auf direktem Wege nach Essen zu suchen.
Doch anstatt wieder die Mülleimer zu durchwühlen, rennt er diesmal zu einer Bank, auf der es sich ein Junge mit einer Bratwurst gemütlich gemacht hat, und bettelt ihn an. Er stellt sich sogar auf die Hinterbeine, was bei einem derart dicken Hund wirklich beachtlich ist. Winselnd legt er seine Pfoten auf den Oberschenkel des Jungen und hinterlässt braune Streifen auf dessen blauem T-shirt.
Mein Gott, ist das peinlich… so schnell ich kann setze ich ihm nach.
“Böser Goethe!”, meckere ich und Goethe wird sogleich reumütig. Winselnd legt er sich auf den Rücken. Es ist ja nicht so, das er nicht erzogen wäre, doch wenn es ums Essen geht, vergisst er seine guten Manieren.
“Dein Hund heißt Goethe?”, lacht der Junge. Sein Lächeln ist etwas schief. Er ist vielleicht etwas älter als ich, aber nicht sehr viel. Sein Haar ist fast schwarz aber seine Augen haben einen ähnlichen Grünstich wie meine.
“Tut mir Leid, dass er dich angebettelt hat.”, entschuldige ich mich, schnappe mir den Hund und gehe. Damit ist das Training heute bis auf weiteres beendet. Zur Strafe muss Goethe mit mir nach Hause laufen. In den Komfort einer Busfahrt lasse ich ihn nun nicht mehr kommen.
Während Goethe mit gesenktem Kopf neben mir her trottet, denke ich an den fremden Jungen auf der Bank. Zwar habe ich ihn noch nie gesehen geschweige denn mit ihm gesprochen, jedoch finde ich ihn sympathisch. (Zumindest hat er sich nicht darüber aufgeregt, dass er fast Hundesabber auf seiner Bratwurst gehabt hätte.)
Das ist für mich eher ungewöhnlich. Meistens bin ich eher misstrauisch gegenüber anderen bis ich sie näher kennen gelernt habe.
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In den nächsten Tagen geht mir dieser fremde Junge nicht mehr aus dem Kopf. In der Schule, beim Hund ausführen und bei den Hausaufgaben denke ich an sein schiefes Grinsen und frage mich, ob er Geschwister hat, ein Haustier, ob er in der Nähe wohnt,…
Warum das so ist, kann ich selbst nicht verstehen.
~~~
Es wird Herbst. Paula, meine beste Freundin sagt, man kann den Herbst riechen und ich finde, da hat sie recht.
Sogar Goethe gefällt der Wetterumschwung. Er scheint bei unserem Fitnesstraining viel motivierter. Ich gehe immer öfter in den Park und versuche mir einzureden, dass es nicht wegen dieses Jungen ist, den ich übrigens nicht noch einmal getroffen habe.
“Emilie, sag mal, hat Goethe schon abgenommen?”, fragt mich Paula, die uns heute zum spazieren begleitet.
“Vielleicht 200 Gramm.”, ich zucke mit den Schultern.
“Da hat er ja noch einiges vor sich”, lacht Paula und streichelt dem Hund über den Kopf. Sie trägt schon einen Schal und eine dicke Jacke, meiner Meinung nach ist sie recht kälteempfindlich. Ihre strohblonden Locken stehen wie immer wild vom Kopf ab.
Goethe grunzt und setzt sich einfach auf den Boden.
“Hast du schon mal so einen faulen Hund gesehen?”, frage ich und zerre Goethe weiter. “Meine Mutter sagt auch schon, dass mit ihm nichts mehr anzufangen ist. Dabei ist er noch ganz jung. Aber das einzige, was den interessiert ist Fressen und Schlafen. So ein Leben hätte ich auch gern mal.”
“Tja, blöd, wenn man nicht als Hund geboren wird.”, entgegnet Paula.
“Wem sagst du das…”
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Bald gibt es den ersten Bodenfrost und auch das erste Glatteis. Ich brauche nur 5 Minuten zu Fuß zur Schule, normalerweise. Jetzt muss ich langsam gehen um nicht nach jedem Schritt auszurutschen, und brauche fast eine viertel Stunde.
“Weißt du, was toll ist?”, fragt mich Paula, als wir uns auf dem Schulweg zufällig treffen. Sie kommt gerade von der Bushaltestelle als ich das Haus verlasse. Es ist wieder ein Montag, sodass ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, dass es überhaupt etwas geben kann auf der Welt, das man mit “toll” bezeichnen kann.
“Was denn?”, will ich wissen.
“Am Freitag habe ich einen Nebenjob gefunden. Ich sitte jetzt einmal in der Woche das Baby unserer Nachbarin. Und ausnahmsweise klappt es mal!”, sagt sie
“Cool!”, freue ich mich für sie. Paula und ich haben schon einiges ausprobiert in dieser Richtung. Sie hat einmal Prospekte verteilt, aber da sie Hemmungen hatte, die Leute anzusprechen, war man nicht sehr zufrieden mit ihr.
Ich habe es mit Gassi gehen mit einem Hund in der Nachbarschaft versucht. Ich dachte, das sei die perfekte Lösung. Schließlich muss ich mit Goethe ohnehin spazieren gehen, da kommt es auf einen Hund mehr oder weniger auch nicht an. Dachte ich. Der andere Hund war ziemlich aggressiv, hätte sich beinahe von der Leine gerissen oder mich vor ein Auto geschleift. Zu allem Überfluss wollte er auch noch Goethe beißen. Und da hörte bei mir der Spaß auf.
“Weißt du, vielleicht solltest du auch auf ein kleines Kind aufpassen. Phillip, der kleine Junge, den ich dann am Sonntag zum ersten mal betreut habe, war total lieb und hat kein bisschen gebockt.”, schlägt Paula vor.
“Keine schlechte Idee.”, sage ich und nehme mir fest vor, nach der Schule die Kleinanzeigen in der Zeitung durchzuforsten.
Am Nachmittag fallen die ersten Schneeflocken. Sie sind sehr klein, wirbeln in der Luft herum und bezuckern Zäune Straßen, kurz bevor sie schmelzen.
Leider hat mein Vater die aktuelle Tageszeitung mit auf die Arbeit genommen und die Zeitungen vom Vortag werden bei uns immer sofort fein säuberlich entsorgt. Also beschließe ich erst einmal im Internet nachzusehen. Zwar gibt es Genügend Anzeigen von Leuten, die einen Babysitter suchen, jedoch ist das alles ziemlich weit weg oder es wird jemand gesucht, der Vormittags Zeit hat.
Schließlich springt mir eine Anzeige aus einem Anderen Bereich ins Auge. Gesucht wird 1-2 Mal pro Woche eine Hausaufgabenbetreuung und eventuelle Nachhilfe für ein Geschwisterpaar aus 5. und 7. Klasse. Es scheint nicht weit weg zu sein, das angegebene Stadtviertel stimmt jedenfalls mit meinem überein.
Abends frage ich meine Eltern, ob ich mich auf diese Anzeige melden darf. Sie haben nichts dagegen. Im Gegenteil, mein Vater findet es sogar gut, dass ich auf diese Idee gekommen bin.
“Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Jugendliche gerade durch solche Aufgaben außerhalb des familiären Umkreises lernen, Verantwortung zu übernehmen”, erklärt er. Er ist Psychologe, ich denke, darum redet er manchmal in diesem Ton.
Gleich am nächsten Tag schreibe ich an die, in der Anzeige genannte e-mail Adresse. Ich habe Glück. Zwei Tage später bekomme ich eine positive Antwort.
Ich soll am Montag für zwei Stunden vorbeikommen und überprüfen, ob ich mit den beiden Kindern klarkomme (und damit die Familie sieht, ob ich geeignet bin, selbstverständlich).
Die gesamte restliche Woche bin ich sehr aufgeregt. Ich will unbedingt, das es mit diesem Nebenjob klappt. Erstens sollen meine Eltern nicht denken, ich sei nicht dazu in der Lage, etwas eigenständig zu machen und zweitens möchte ich mein Taschengeld aufbessern um irgendwann genug Geld zusammenzuhaben, um einen Laptop zu kaufen.
Der nächste Montag wird noch grausamer als normal. Zu meiner Müdigkeit und meiner Lustlosigkeit kommt auch noch Nervosität und ich kann den Schulschluss kaum abwarten. Dann nämlich renne ich nach Hause, schmeiße meine Sachen in die Ecke, schnappe mir meinen übergewichtigen Hund und schleife ihn eine Runde um den Block. Anschließend bekommt er seine Ration Diätfutter und ich mache mich auf den Weg zu der angegebenen Adresse. Die Haare habe ich noch schnell mit einer Klammer hochgesteckt und ausnahmsweise trage ich einen Rock anstatt der üblichen Jeans.
Weil ich mich so beeile, komme ich viel früher als erwartet bei den Rothmanns an. Also gehe ich ein bisschen die Nebenstraßen auf und ab, denn zu früh oder zu spät kommen will ich auf keinen Fall.
Auf die Minute genau klingele ich.
Eine Frau um die Vierzig öffnete mir die Tür. Sie hat ihr langes, braunes Haar zu einem Knoten gebunden und hat ein freundliches Gesicht. Auf dem Arm trägt sie ein kleines Kind mit einem strahlenden Gesicht.
“Hallo, bist du Emilie?”, fragt sie mich.
“Ja. Guten Tag.”
Die Frau, Frau Rothmann lässt mich herein und führt mich in die Küche. Dort sitzen schon Gregor und Luise und warten auf mich. Gregor ist zwölf Jahre alt, hat kinnlange, braune Haare und trägt eine Brille mit blauem Gestell. Luise ist zehn Jahre alt; ihre hüftlangen Haare sind etwas dunkler als die ihres Bruders. Wenn sie lacht sieht man eine große Zahnlücke in Unterkiefer.
Frau Rothmann setzt sich zu uns an den Tisch und beobachtet mich. Das wird sie später nicht mehr machen, wenn alles gut geht. Nach anfänglicher Nervosität werde ich immer ruhiger. Erst erkläre ich Gregor Mathe, dann erkläre ich Hannah Physik während Gregor die Aufgaben macht. Die Beiden verstehen schnell, was ich sage und ich finde, es läuft erstaunlich gut.
“Ich habe einen Sohn in Ihrem Alter. Wenn der sich mal mit seinen Geschwistern beschäftigen würde… “, sagt Frau Rothmann und schüttelt den Kopf. Das kleine Kind, Hannah ist von ihrem Schoß heruntergekrabbelt und spielt unter dem Tisch mit einer Puppe.
Ich will gerade etwas erwidern, da steht ER in der Tür.
Ich versuche meine Überraschung zu verbergen. Es ist genau der, dem mein Hund den Pullover voll gesabbert hat. Der “Junge mit der Wurst”.
Ich hatte sein Gesicht und überhaupt ihn selbst schon wieder völlig vergessen. Natürlich erkennt er mich nicht. Er betrachtet uns am Tisch und ich sehe ein Zucken um seine Mundwinkel.
“Das ist mein ältester Sohn.”, erklärt Frau Rothmann mir.
“Hallo. Ich heiße Julius.”, sagt er und lässt mich sein schiefes Lächeln sehen.
“Emilie.”, antworte ich.
Er geht in die andere Ecke der Küche, streckt seinen Arm nach oben und holt mühelos eine Dose vom Kühlschrank herunter. “Mehl”, steht darauf.
“Mama, ich brauch’ das Mehl für ‘nen physikalischen Versuch. Morgen gehe ich dann neues kaufen.”, erklärt er und schaut seine Mutter bittend an.
“Na, nimm schon.”, willigt sie ein und verdreht die Augen.
Langsam geht er zur Tür hinaus und zieht sie leise hinter sich zu. Kaum ist die Tür eingerastet höre ich ihn unterdrückt “YIIIEHA!”, schreien. Streberhafter geht es nicht… Unwillkürlich muss ich schmunzeln uns seine Geschwister kichern.
Alles in allem ist Frau Rothmann wohl ganz zufrieden mit mir, denn ich bleibe die Hausaufgabenbetreuung für die Louisa und Gregor.
Auf einmal ist der Montag nicht mehr der ödeste Tag der Woche. Ich freue mich schon früh darauf, zu den Rothmanns zu gehen, nicht zuletzt wegen Julius. Ich kenne ihn kaum und dennoch glaube ich zu wissen, dass er nett, sympathisch, charmant, intelligent und vieles mehr ist. Ich weiß selbst, dass das Einbildung ist, denn niemand ist perfekt aber je länger ich es mir einrede, desto mehr glaube ich auch daran.



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Fortsetzung folgt...





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