LebensLauf - Teil 7

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 11.04.2011


Am nächsten Tag machte ich einen Termin in der Praxis eines Gynäkologen. Mein kleines Pünktchen, dessen Herz bereits kräftig schlug, des bereits Augen und Finger und einen Mund hatte und dessen Wirbelsäule sich sogar schon bildete, sollte bald nicht mehr sein. Ich hatte die elfte Schwangerschaftswoche bereits überschritten, war elf Wochen und zwei Tage schwanger. Nach elf Wochen und fünf Tagen, die das Pünktchen in meinem Bauch verbracht hatte, sollte es nun vorbei sein. Ich musste nur noch auf die nötigen Unterlagen der Krankenkasse warten.
***
Es klopft an der Tür. “Herein.”
“Julia, wie geht es dir?”, mein Vater steht in meinem Zimmer, setzt sich zu mir aufs Bett.
“Geht so.”, murmele ich.
“Du willst die Schwangerschaft beenden?”, fragt er. Obwohl er es ja genau weiß.
“Ja.”, antworte ich.
“Bist du dir ganz sicher?”
“Nein.” Ich fange an zu weinen. “Ich bin mir ganz sicher, dass ich es behalten will. Aber das geht doch nicht.”
“Julia… Natürlich ginge das. Wenn du dein Baby austragen möchtest, gibt noch einen Weg zurück.”, fängt er an.
“Ich glaube, das Problem ist, dass ich zu wenig Zeit habe. Wenn ich es mir doch anders überlegen sollte, wenn ich es einfach nicht schaffe - dann ist es zu spät. Vielleicht komme ich ja mit so einem Kind gar nicht klar und dann hat es ein total mieses Leben.”, äußere ich meine Befürchtungen.
“Trotzdem würdest du es lieber behalten.”, stellt mein Vater fest.
“Ja. Es lebt doch schon. Und es sieht fast aus, wie ein richtiger Mensch! Und es ist immerhin mein Kind!”, sage ich.
“Es gibt immer einen Weg zurück. Wenn du trotz unserer Unterstützung überfordert wärest, oder wenn du dich später noch gegen das Kind entscheidest, dann kannst du es immer noch zur Adoption freigeben. Viele Eltern wünschen sich nichts mehr als ein Kind und würden sich gut um es kümmern. Du musst nicht abtreiben, nur weil du es als einzige Lösung siehst.”, sagt Papa.
“Danke!”
***
Ein weiteres Gespräch mit meiner Familie folgte. Ich rief bei dem Gynäkologen an, sagte den Termin ab und bereitete mich auf die neun Monate vor, die vor mir lagen.
***
Ich bin bereits am Ende der zwölften Schwangerschaftswoche. Langsam entwickelt sich mein Appetit zurück. Ich esse bestimmt fünf Brote mit Erdbeermarmelade täglich, Senf verdrücke ich löffelweise und mein Bauch ist schon ein bisschen gewölbt. Zum ersten Mal seit drei Monaten gehe ich auf den Friedhof. Ich hocke mich vor Mathis’ Grab. Immer noch ist es eisig kalt und der Schnee fällt in dicken Flocken zu Boden.
Dort, unter mir, liegt in einer Urne seine Asche. Und in mir, in meinem Bauch, trage ich sein Kind. Vielleicht wird ja ein Teil von ihm doch durch das Pünktchen weiter leben. Ich hoffe so, so, so sehr, dass es aussieht wie er, dass es seine Sprachbegabung hat, seinen Charakter. Eigentlich glaube ich ja nicht an Schicksal oder so etwas, aber in dieser Hinsicht würde es mir vieles erleichtern, zu glauben, dass die Entstehung des Pünktchen von einer höheren Gewalt irgendwie vorbestimmt war.
“Mathis?”, flüstere ich. Irgendwie fühle ich mich nicht wirklich wohl dabei und komme mir etwas hilflos vor. ’Er kann mich nicht hören.’, sagt eine Stimme in meinem Kopf. ’Er ist ja nur noch ein Haufen Staub.’ Ich fange an zu weinen. Trotzdem versuche ich es noch einmal.
“Mathis, ich, also, wenn du mir von irgendwo da oben zusiehst, dann hast du wahrscheinlich gesehen, dass ich schwanger bin… von dir… Ich bekomme unser Kind. -Ach, das bringt doch nichts! Du hörst mich doch eh nicht!”
- entfernen ?
“Seh’ ich nicht so!”, höre ich auf einmal eine Stimme hinter mir. Vor Schreck wäre ich beinahe vornüber gekippt.
“Was soll das?!”, schreie ich das Mädchen an, das urplötzlich hinter mir aufgetaucht ist. Schwarz geschminkte Augen und ein langer schwarzer Mantel.
“Viele, die hier auf den Friedhof kommen, sprechen mit den Toten.”, gibt sie ruhig zur Antwort und wickelt sich eine schwarze Haarsträhne um den Finger.
“Spinnst du? Lungerst du den ganzen Tag auf dem Friedhof herum und belauschst die Leute, die herkommen? Mann, bist du bescheuert!”
“Nur, weil ich schwarz angezogen bin, heißt das nicht, dass ich immer auf dem Friedhof abhänge.”, sagt sie.
“Und was machst du dann hier?!”, gebe ich zurück. Mir reicht es. Ich ziehe mich am Wasserbecken hoch.
“Äh, geht’s?”, fragt das Mädchen.
“Glotz nicht so blöd!”, fauche ich sie an, als ich kurz darauf stehe.
“Wie heißt‘n du…?”, fragt sie.
“Das geht dich gar nichts an! Und tschüss.” Dann gehe ich, so zügig, wie es mein Zustand erlaubt, in Richtung Ausgang und verlasse das Friedhofsgelände. Es gibt schon komische Leute auf der Welt. Ich lasse mich jedenfalls nicht mehr einschüchtern.
Nur, wenn ich daran denke, dass dieses Mädchen, das für Mathis Tod mitverantwortlich ist, schon in zwei Monaten wieder aus der Jugendstrafanstalt kommt, wird mir immer noch schlecht. Ihr Freund, der die Aktion angezettelt hatte, würde zum Glück noch über ein Jahr sitzen, und dann gab es für beide Sozialstunden. Trotzdem war ich wirklich sauer. Immerhin war Körperverletzung mit Todesfolge, selbst bei Jugendlichen, schon mit fünf Jahren oder mehr bestraft worden. Und selbst das wäre noch zu wenig für eine so heimtückische Tat. Sie könnten von mir aus lebenslänglich einsitzen.
***
Vierzehnte Woche. Ganz langsam ging es mir besser. Eigentlich glaubte ich nicht, dass es an den Gesprächen mit der Psychologin lag. Vielmehr lag es daran, dass ich spürte, dass ich mich jetzt zusammenreißen musste, ich wollte alles tun, damit es dem Pünktchen später gut ging.
***
“Was hast du denn da?”, frage ich Justus, der mit einer braunen Papiertüte zu uns in die Küche kommt.
“Ich war im Bioladen. Guck mal: Äpfel, Bio-Wurst, Reiswaffeln…”, ruft er triumphierend. Es ist schon März, aber es ist immer noch eiskalt. Schneeflocken hängen an seiner schwarzen Jacke.
“Und seit wann bist du so ein Bio-Freak?”, will ich wissen.
“Quatsch, ich esse das doch nicht. Das ist für dich! Du musst dich jetzt besonders gesund ernähren.”, erklärt er, stellt die Tüte auf den Küchentisch und zieht seine Jacke aus, geht kurz zum Flur und hängt sie an den Haken. “Siehst du, ich hab’ sogar biologische saure Gurken!”, ruft er und zieht das Gurkenglas aus der Papiertüte.
“Das ist ja nett von dir, aber ich bleibe lieber bei Senf, Marmelade und Schwarzbrot.”, antworte ich ihm.
“Das geht aber nicht. Studien beweisen, dass ein Kind viel weniger mäkelig wird, wenn sich die Mutter in der Schwangerschaft vielseitig ernährt. Willst du, dass das Kind später nur Marmelade isst und sonst nichts? Außerdem braucht es viel Eiweiß und Vitamine. Damit es ordentlich wächst!”, beharrt mein Bruder und kriecht unter den Tisch.
“Na gut… Aber die sauren Gurken esse ich nicht. Davon wird mir sonst schlecht.”, lenke ich ein.
“Aber ich dachte - Gefunden!”, er winkt mit seinem grauen Hausschuh, “Ich dachte, Schwangere MÖGEN saure Gurken!”
“Tja, ich nicht.”, erkläre ich.
Dann setzt er sich zu mir an den Tisch, öffnet eine Packung getrocknete Aprikosen und hält sie mir hin. Misstrauisch greife ich hinein und stecke mir eine in den Mund.
“Ich muss jetzt aber wieder los. Ich treffe mich noch mit Basti, büffeln. In einem halben Jahr mach ich Abi. Oh Gott.”, er rauft sich die Haare.
“Du schaffst das schon. Viel Spaß beim lernen.”, ich reiche ihm die sauren Gurken und füge noch hinzu. “Du kannst ja was mitbringen, falls ihr Hunger bekommt.”
Demonstrativ schraubt er das Glas auf, holt eine Gurke heraus und beißt ab. Dann ist er wieder verschwunden.

***
Ich war Justus wirklich sehr dankbar dafür, dass er sich so intensiv um mich und um das Pünktchen kümmerte und sorgte. In der siebzehnten Woche ging ich noch einmal zum Friedhof.
***
Niemand da. Ich spähe um die Ecke nach links, dann nach rechts. Nirgends ist jemand zu sehen. Dass heißt, ein alter Opi mit Blümchen in der Hand würde mich ja nicht stören. Höchstens diese Verrückte, die in ihrer Freizeit hier rumhängt, um andere Menschen zu beobachten.
“Hallo Mathis.”, flüstere ich und sehe mich noch einmal um. “Ich habe dir einen Krokus mitgebracht.” Ich stelle das Töpfchen auf den Boden.
“Ich habe schon drei Kilo zugenommen. Und Appetit habe ich auch. Das Pünktchen ist schon zehn Zentimeter groß, steht in so einem Buch, was mir Justus geschenkt hat. Mathis… wenn du nur bei mir wärst. Ich vermisse dich so. Ich hoffe, dass du das Baby auch sehen kannst, wenn es da ist, von dort, wo du gerade ist.”
Ich höre etwas. Schnell drehe ich mich um. Aber dort ist nur eine ältere Frau, die am Becken eine Vase füllt.
“Ich wollte Sie nicht erschrecken.”, entschuldigt sie sich. Ich nicke.
Dann nimmt sie ihre schmutzig-weiße Vase aus dem Becken, humpelt den Weg zurück und geht um die Ecke. Inzwischen ist es dämmrig und kühl geworden. Ich schlage den Kragen meines schwarzen Mantels nach oben und sehe an mir herunter. Wenn ich den Mantel straffe, kann man ein kleines Bäuchlein sehen. Es wird nicht lange dauern und meine Klassenkameraden werden meinen Zustand bemerken. Vor ihren Bemerkungen habe ich am meisten Angst. Ich ziehe mich langsam am Wasserbecken hoch, fahre mir mit der Hand durchs Haar. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Mathis vor mir, wie er einen Fuß vor den anderen setzt. Wie er mich mit einem angestrengten Grinsen ansieht, während er Schritt für Schritt weiter geht. Wie er sich erleichtert und erschöpft an mir festhält, als ich auf ihn zugehe und ihn am Arm packe.
Ich sehe sein selbstbewusstes Lächeln. Wie souverän er mit seiner Krankheit umgegangen ist. Mathis hatte immer einen Funken Optimismus, egal, was war.
Ich sehe sein Gesicht, seine Augen, die soviel Wärme ausstrahlen.
Jetzt weiß ich, dass ich nicht mehr herkommen werde. Oder zumindest nur noch selten. Ich habe ihn auch so bei mir und möchte ihm nicht dort nahe sein, wo seine Asche langsam in der Urne Schimmel ansetzt. Ich erinnere mich gern an ihn, an Plätzen, an denen wir gemeinsam gelacht haben. Ich stelle mir vor, dass er, falls es ein Leben nach dem Tod gibt, genauso lächeln muss wie ich, wenn er an unsere gemeinsamen Momente denkt.
Aber irgendwie wird mir jetzt, wo ich auf dem Friedhof stehe, klar, dass ich meine Entscheidungen allein treffen muss, nicht immer überlegen darf, was er gewollt hätte und was nicht. Das ich loslassen muss. Ich weiß, dass viele denken, wenn mein Kind ein Junge wird, nenne ich es Mathis. Aber genau das werde ich nicht tun. Denn es ist, auch wenn es hoffentlich Ähnlichkeiten mit ihm hat, ein eigenständiges Wesen. Es ist nicht Mathis. Sondern es ist sein Kind.





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