LebensLauf - Teil 6

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 06.04.2011


Direkt an diesem Abend erzählte ich es meinen Eltern, malte mir schon das Schlimmste aus. Ich sagte es beim Abendessen, völlig unvermittelt, als mein Vater mich fragte, ob ich ihm die Butter reichen könne. “Ich bin schwanger.”
***
“Haha!”, ruft mein Vater, etwas zu laut.
“Ein Witz, oder?” ruft er eindringlich.
Ich senke den Blick.
Papa stützt den Kopf in die Hände und rauft sich die dunklen Haare. Mama schlägt die Hände vor den rot geschminkten Mund.
“Aber, Ich, also, wir wussten gar nicht, dass du überhaupt schon… geschweige denn…”, stammelt meine Mutter.
“Sie und Mathis waren ein Paar.”, erklärt Justus.
“Du wusstest das?”, brüllt mein Vater plötzlich und schlägt mit der Hand auf den Tisch. Dann atmet er tief durch. “Verzeihung. Dich trifft natürlich keine Schuld.”
“Was heißt denn hier Schuld? Julia hat es ja wohl kaum darauf angelegt, schwanger zu werden. Oder - hast du?”, wirft meine Mutter ein.
“NEIN!”
“Du bist doch selbst noch ein Kind! - Julia! Bist du denn nicht ausreichend aufgeklärt worden? Wir waren doch immer … sehr offen zu dir!”, keucht mein Vater.
“Egal, welche Entscheidung du triffst, wir unterstützen dich.”, sagt meine Mutter, und starrt auf den weißen Küchenvorhang, als hätte sie etwas verwirrendes dort entdeckt..
“J-ja klar.”, versichert nun auch mein Vater. “Aber du musst bedenken, dass du auch körperlich nicht besonders fit bist. Vielleicht sollten wir erst einmal mit Dr. Schlegel sprechen. -”
“Was soll das denn jetzt heißen?”, frage ich und starre ihn entsetzt an. “Das äh, das Ding bekommt die Krankheit doch nicht vererbt.”
“Das meine ich auch gar nicht.”, erklärt mein Vater. “Aber die Frage ist, in wie weit du eine Schwangerschaft verkraften könntest. Rein körperlich allein.”
“Hast du denn schon einmal über einen Schwangerschaftsabbruch nachgedacht? In der wievielten Woche bist du denn?”, fragt meine Mutter vorsichtig.
“In der elften.”, antworte ich. “Ja, ich hab schon drüber nachgedacht, aber ich habe es ja auch erst heute erfahren. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Nicht nur, dass ich ziemlich jung bin: Das Kind ist von Mathis, auch wenn der jetzt nicht mehr da ist. Ich weiß nicht. Ich will jetzt noch kein Kind haben, aber ich kann es doch auch nicht einfach so… wegmachen lassen.”
“Das verlangt ja auch keiner.”, beruhigt mich mein Bruder.
“Ich mache dir so schnell wie möglich einen Termin bei meiner Frauenärztin und auch einen in der Beratungsstelle. Wenn du willst, komme ich mit. Wir schaffen das schon.”, ermutigt mich meine Mutter.
***
Es wurde noch ein langes Gespräch. Ich war wirklich froh von Seiten meiner Eltern nicht noch mehr Druck zu bekommen, als ich ohnehin schon hatte. Im Gegenteil, ich glaube, nicht alle Eltern nehmen eine solche Schocknachricht so locker auf. Aber nach dem ganzen Stress der letzten Wochen hatten sie sich wahrscheinlich schon auf Probleme jeglicher Art eingestellt. Schon zwei Tage später hatte ich einen Termin bei der Frauenärztin, Frau Meyer. Meine Mutter begleitete mich.
***
“Sehen Sie, hier ist ihr Baby.”, sagt die Ärztin. Diesmal sehe ich genauer hin, als das letzte Mal im Krankenhaus. “Das hier ist ein Arm, und hier erkennt man ein Beinchen.”
“Es hat schon Arme und Beine?”, frage ich.
“Ja. Der Fötus hat sogar schon Zahnwurzeln und Fingernägel.”
“Wirklich?!”
“Sieh mal, wie es zappelt.”, sagt meine Mutter. Tatsächlich sind Bewegungen auszumachen - wenn sie nicht daher kommen, dass die Ärztin den Ultraschallkopf bewegt .
“Und, wie groß ist es jetzt ungefähr?”, frage ich.
“Knapp vier Zentimeter.”, antwortet die Ärztin.
Ich halte Daumen und Zeigefinger auseinander. Vier Zentimeter ist ganz schön viel.
“In Ihrem Alter stehen Sie jetzt vermutlich vor einer schweren Entscheidung. Wissen Sie denn schon, ob Sie das Kind austragen wollen?”, fragt Frau Meyer.
“Ich habe morgen einen Beratungstermin.”, antworte ich.
“Meinen Sie denn, dass meine Tochter mit einer Schwangerschaft zurecht käme? Rein körperlich, meine ich.”, erkundigt sich meine Mutter.
“Ihre Krankheit wäre meiner Meinung nach kein Grund für einen Schwangerschaftsabbruch. Es kann sein, dass sie sich in den letzten Schwangerschaftswochen etwas mehr schonen müsste, als andere junge Mütter.”, beruhigt sie meine Mutter.
***
Auch Dr. Schlegel, den ich in seinem Winterurlaub auf dem Diensttelefon erreichen konnte, bestätigte, dass ich, solange ich unter Kontrolle der Ärzte stand, nichts zu befürchten hatte. Trotzdem ging ich zu dem Beratungsgespräch, welches ich ja brauchte, falls ich mich für eine Abtreibung entscheiden sollte. Ich hatte nicht mehr viel Bedenkzeit.
***
“Du stehst also in einer sehr schwierigen Situation.”, fasst die junge Frau, die mit mir das Beratungsgespräch führt, zusammen, was ich ihr geschildert habe. “Ich kann dir allerdings nicht sagen, ob du das Kind bekommen sollst, oder nicht. Selbst wenn du dir vielleicht wünschen würdest, dass dir jemand die Verantwortung nimmt. Ich kann dir nur erklären, was mit einem Kind auf dich zukommen würde, und auch, wo du Hilfen bekommen könntest. Du stehst nicht völlig allein da und so wie ich das sehe unterstützt dich deine Familie auch.”
Sie erklärt, dass es viele Möglichkeiten gibt. Ich könnte zum Beispiel Halbwaisenrente beantragen, dafür müsste ich allerdings genau feststellen lassen, das das Kind von Mathis ist. Das ginge nur über einen Gentest mit seiner Mutter. Was wiederum nicht geht. Trotzdem würde es verschiedene Hilfen, wie Erziehungs- und Kindergeld, vom Staat geben.
Die Zeit rennt mir davon. Ich muss mich bald entscheiden. Jetzt entscheide ich über Leben oder Tod. Bei diesem Gedanke läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken und mir wird schlecht.
Nach dem Beratungsgespräch bin ich noch unsicherer als zuvor.
“Justus?”, frage ich meinen Bruder, als wir abends gemeinsam im Wohnzimmer sitzen. “Glaubst du, Mathis würde wollen, das ich das Kind behalte?”
Justus sieht mich an. “Ja.”, sagt er bestimmt. “Er würde alles tun, um dich zu überzeugen, das Kind zu behalten. Angesichts der … jetzigen Situation glaube ich aber, dass er nicht böse sein würde, wenn nicht. Falls er uns jetzt sieht, will er ganz sicher, dass du das tust, was du für richtig hältst, unabhängig von dem, was er gewollt hätte, wäre er noch bei uns. Du triffst keine Entscheidung für Mathis. Du triffst sie für dich.”
“Aber der kleine unfertige Mensch, der vielleicht leben könnte, wäre auch ein Teil von ihm. Sagt man nicht, jemand lebt in seinen Nachkommen weiter? Würde ich damit nicht … Mathis umbringen?”, der Gedanke treibt mir Tränen in die Augen. Schuld, schuldig. Verhindern. Warum habe ich es nicht verhindert?
“Du bringst keinen um. Abtreibung ist nicht gleich Mord! Und Mathis lebt weiter, indem wir an ihn denken, und nicht indem du ein Kind austrägst, aber psychisch daran zerbrichst. Ich bin mir sicher, der Vater des Kindes sähe es genauso.”
“Und wenn ich es behalten will? Wenn ich sehen will, wie es aussieht, und ob es sportlich ist oder schlau oder kreativ?”
“Es ist deine Entscheidung. Bei der ich dich, wie immer sie ausfallen wird unterstützen werde.”





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