LebensLauf - Teil 3

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 04.01.2011


Die Weihnachtsfeiertage verbrachten wir bei meinen Großeltern. Ich wurde Mathis gegenüber immer reservierter, und merkte gleichzeitig, dass ich mich ihm nicht fernhalten konnte. Immer, wenn ich mit ihm lachte wurde ich sofort wieder bedrückt und ich spürte ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust, das mir das Atmen schwer machte. Mittlerweile gingen wir mehrmals in der Woche zu Dr. Schlegel, der die wenige Zeit, die bis zu Mathis’ Abreise blieb, für seine Untersuchungen nutzen wollte. Er schickte Blut- und Gewebeproben in ein Spezialinstitut, in dem ein Teil unseres jeweiligen genetischen Codes bestimmt wurde. Meiner Meinung nach war das Schwachsinn, immerhin ist bewiesen, dass die Krankheit nicht vererbbar ist. Am 31.Dezember waren wir wieder bei meinen Großeltern.
***
“Ist es schon Mitternacht?”, fragt mein Urgroßvater Erich, und stupst mich an.
“Nein, erst in zwei Stunden.”, antworte ich ihm.
“Dann will ich jetzt einen Glückskeks haben!”, wettert er.
“Opi will einen Glückskeks!”, rufe ich laut.
“Na, dann wollen wir sie mal öffnen.”, sagt meine Großmutter und reicht einen kleinen Korb mit dem “Schicksalsgebäck” herum. Urgroßvater Erich reißt die Folie ab und steckt sich den Keks in den Mund.
“Halt!”, ruft Justus. “Du musst doch erst den Zettel herausnehmen.”
Wir lesen der Reihe nach unsere Zettel vor. Justus hat: “Nur wer wagt, der gewinnt”;
Urgroßvater: “Erlauben Sie sich kleine Verrücktheiten, sie wirken wie Medizin!”;
meine Großmutter: “Wer den Kern essen will, muss die Nuss knacken”;
mein Großvater: “Sie werden die Informationen erhalten, die Sie benötigen”; Mathis: “Das Leben ist begrenzt, die Liebe aber ist unausschöpflich.”
und ich: “Die Augen sind der Spiegel der Seele.” Als ich meinen Zettel vorlese, weiß ich, dass ich rot werde, weil ich daran denke, dass dieser Spruch auf Mathis genau zutrifft: Seine Augen zeigen, was er denkt.
Wir gießen Blei, mir wird dabei Gesundheit vorausgesagt, Mathis bekommt ein langes Leben und meine Großmutter ein Baby. (Zur Information: sie ist über siebzig…)
Die Zeit vergeht und mein Urgroßvater wird immer aufgeregter. Dann ist es 23:40 Uhr. Eigentlich gehen jetzt traditionsgemäß alle nach draußen um zum Jahreswechsel Feuerwerk zu zünden. Mathis bittet darum, die Raketen von drinnen bewundern zu dürfen, denn meine Großmutter hat viele Stufen vom Haus bis zur Straße.
Ich biete mich an mit ihm im Haus zu bleiben, ich halte ohnehin nicht viel von Knallern und Co.
Wir schalten das Sylvesterprogramm im Fernsehen ein und warten auf Mitternacht. Jetzt sind es noch 10 Sekunden. Wir zählen mit.
“10...9...8...7...6...5...4...3...2...1...0!” Im Fernsehen beginnt Paul Pots zu singen.
“Ich wünsche die ein gesundes neues Jahr.”, sage ich und sehe in seine Augen. Zum ersten Mal erkenne ich nichts darin. Es ist, als würde ich in ihnen versinken, eine unergründliche Tiefe liegt in seinem Blick. Er beugt sich nach vorn, nimmt meinen Kopf in die Hände. Langsam und zögernd kommt sein Gesicht näher. Einen Zentimeter vor meinem Mund hält er inne.
Was mache ich hier eigentlich?, frage ich mich.
Dann drückt er seinen Mund auf meinen und ich vergesse alles um mich herum. Ein wahnsinniges Glücksgefühl dringt in jede Faser meines Körpers. Irgendwann spüre ich eine einzelne Träne über meine Hand laufen, die ich an seine Wange gelegt habe. Ich weiß, was er denkt, wie er sich fühlt. Dann löst er seine Hände von meinem Gesicht und setzt sich zurück. Wir sehen uns an.
“In drei Tagen bist du nicht mehr hier.”, sage ich.
“Die Angst vor dem Ende, darf dich nie daran hindern, etwas Neues zu beginnen.”, sagt er.
***
Wir verbrachten von diesem Moment an noch mehr Zeit miteinander. Uns blieben nur noch wenige Tage. Er sollte am Nachmittag des 2.Januar zurück nach Kanada fliegen. Am 1.Januar waren meine Eltern auf einer Feier bei Bekannten, wo sie über Nacht bleiben wollten. Sie wussten nichts von der Sache zwischen Mathies und mir, mein Vater trug aber dennoch meinem Bruder auf, ein Auge auf mich zu haben. Ich verstand nicht, warum und was er damit meinte.
***
Die Tür fällt ins Schloss. Ich höre, wie das Auto wegfährt.
“So. Schönen Abend noch euch. Ich gehe zu meinem Kumpel Basti. Morgen früh bin ich wieder da. Ich denke, so kann ich am besten ein Auge auf dich haben, Julia.”, er zwinkert mir zu, holt seine Jacke vom Haken.
“Warte mal Justus!”, rufe ich. “Weißt du, dass…?”
“Dass ihr beide euch gern habt? Das sieht doch ein Blinder”
Mathis lacht sein übermütiges Lachen, noch als Justus das Haus verlassen hat.
Wir sitzen am Abend lang nebeneinander auf Mathis’ Bett im Gästezimmer und reden.
“Was ich dich noch fragen wollte”, fange ich an.
“Was denn?”, er sieht mich an.
“Warum bist du nach Deutschland gekommen?”
“Wenn die Ärzte etwas gefunden hätten, das den anderen Kranken hilft, auch laufen zu können, wäre das doch toll gewesen. Ich wollte nicht derjenige sein, der das verhindert. Und es war eine große Chance für mich, mein Deutsch zu verbessern.“ Sein deutsch ist jetzt beinahe perfekt. Man hört ihm kaum an, dass er kein Deutscher ist.
“Ich wollte der Forschung auch nicht im Weg stehen.”, sage ich. “Aber so lange Zeit in einem Krankenhaus in einem fremden Land, das wollte ich nicht. Darum wissen meine Klassenkameraden auch nicht von meiner Krankheit: Ich will so leben wie alle anderen auch. Ohne ständige Kontrolltermine in der Klinik. Ich fühle mich ja gar nicht krank.”
“Natürlich. Für mich ist es das Selbe. Ich bin nicht krank. Nicht für mich.”
Wir schweigen eine Weile.
Seine Stimme bricht schließlich die Stille.
“Weißt du, wir trennen uns ja nicht für immer. Ich gehe nach Kanada, mache dort in einem Jahr mein Abitur und dann komme ich zurück nach Deutschland. Ich werde Germanistik studieren. Und in den Ferien können wir uns besuchen!”
“Hast du es am Anfang bereut, hergekommen zu sein?”, frage ich ihn.
“Naja, am Anfang wusste ich nicht, ob es wirklich richtig war. Aber dann habe ich dich getroffen.”, gibt Mathis zu.
“Schleimer.”, sage ich spaßhaft.
Wir reden noch ziemlich lange über alles Mögliche. Irgendwann hole ich eine zweite Decke. Vor allem spricht Mathis von der Zukunft, das wir uns wieder sehen wollen, dass er mir schreiben will und ganz abgesehen von uns beiden erzählt er, mir sein Ziel, irgendwann einmal seiner Mutter gegenüberzutreten, stehend, mit sicheren Schritten um ihr zu zeigen, was aus ihrem ungewollten Sohn geworden ist.
“Aber erst dann”, sagt er, “wenn ich mein Abitur und vielleicht sogar das Studium geschafft habe.”
Später in der Nacht, ich denke, Mathis schläft längst, kommen mir dann doch die Tränen. Stumm fließen sie über meine Wangen.
“Julia?”, höre ich Mathis neben mir flüstern. “Du musst nicht traurig sein.” Dann streicht seine warme Hand über mein tränennasses Gesicht.
***
Der nächste Morgen war schrecklich. 11:00Uhr holte ein Fahrer vom Krankenhaus Mathis ab, um ihn zum Flughafen zu bringen.
***
Beim Abschied kann auch er die Tränen nicht zurückhalten. Er steht auf kommt ein, zwei Schritte auf mich zu und küsst mich ein letztes Mal auf den Mund. In seinen Augen sehe ich Verzweiflung.
Dann winkt er mir aus dem Autofenster ein letztes Mal zu, der Fahrer gibt Gas und der Wagen ist verschwunden.
Morgen, denke ich, morgen ist Mathis in Kanada, auf einem anderen Kontinent.
***
Doch Mathis sollte nie dort ankommen. Zwei Stunden später erhielt ich einen Anruf von der Polizei. Man sagte mir, Mathis läge im künstlichen Koma, man glaube, er habe vielleicht versucht sich umzubringen. Ich war geschockt.
***
Noch an diesem Abend sind zwei Polizisten bei uns um das Zimmer, in dem er gewohnt hat, zu untersuchen. Sie sprechen auch mit mir.
“Du bist also eine Freundin von Mathis Stemmelen? Wie wirkte er auf dich?”
“Mathis war immer voller Zuversicht. Gerade gestern noch hat er mir von seinen Zukunftsplänen erzählt. Glauben Sie mir bitte, er würde sich nie umbringen wollen!”, während ich spreche laufen mir ständig die Tränen über die Wangen. Ich schreie fast: “Bitte, können Sie mir nicht sagen, was eigentlich passiert ist?”
“Heute gegen 12:00 ist Mathis Stemmelen am Flughafengebäude angekommen. Nachdem er sein Gepäck aufgegeben hatte, hat er noch einmal das Gebäude verlassen. Eine Passantin beobachtete, wie er von zwei Gleichaltrigen eine Art Päckchen entgegennahm. Dann habe es einen lauten Knall gegeben, das Päckchen sei in Herrn Stemmelens Hand explodiert, sagte die alte Dame. Sie hat dann auch sofort den Notarzt und dieser die Polizei verständigt. Das Päckchen bestand aus mehreren höchst gefährlichen Sylvesterknallern, die nur lose in eine Papierserviette gewickelt waren. Es tut mir leid.”, sagt der Polizist.
“Das hieße doch, jemand hat versucht ihn umzubringen! Die, die ihm das Paket gegeben haben!”, ich schluchze.
“Nun, diese Passantin beobachtete, wie er das Paket bereitwillig entgegennahm. Darum ist Selbstmord zumindest eine Richtung in die wir denken müssen. Es gilt jetzt, die beiden Jugendlichen zu finden, die - Moment.” Sein Handy klingelt in seiner Jackentasche.
Er hält es sich an sein Ohr, sagt etwas zum Anrufer und rauft sich die Haare. Dann schluckt er und sagt:
“Herr Stemmelen ist gerade an seinen Verletzungen verstorben.”


***
Ich musste ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht bekommen und sprach den gesamten nächsten Tag kein Wort, aß nichts und trank nichts. Ich weinte nicht einmal, denn ich spürte nichts mehr. Dann aber kam die Wut. Am 03.Januar ging ich zur Polizeistation, um noch einmal mit den Polizisten zu sprechen. Was genau ich sagen wollte oder mir von dem Gespräch erhoffte, wusste ich nicht, wollte aber alles, mir mögliche tun.
Auf dem Polizeirevier erfuhr ich den wahren Tathergang. Die beiden Jugendlichen hatten sich am Vormittag gestellt. Sie hätten die Böller angezündet und lose in eine Serviette eingewickelt. Dann hätten sie sie Mathis gegeben und gesagt, es sei von mir. Dieser hatte es ihnen zwar nicht ganz geglaubt, wollte sich den Inhalt des Bündels dennoch ansehen. Die Jugendlichen hätten gesehen, wie es explodiert war, hätten dann Angst bekommen und wären weggelaufen.
Es war der Junge, dem Mathis über den Fuß gefahren war und seine Freundin. Sie werden sich für Körperverletzung mit Todesfolge verantworten müssen.
Ich habe mir fest vorgenommen einen Brief an Mathis Mutter zu schicken und ihr von ihrem Sohn schreiben, und was er alles ohne sie geschafft hat.


Nachdem ich bei der Polizei war, gehe ich noch einmal in Mathis’ verlassenes Zimmer. Ich lege mich auf das Bett und lasse meinen Tränen freien Lauf.
Fast höre ich ihn neben mir flüstern: “Julia, du musst nicht traurig sein.”
In der Ritze zwischen Matratze und Bettgestell ertaste ich ein kleines Stück Papier. Mathis Glückskeks- Zettel. Mit tränenverschleierten Augen lese ich:



Das Leben ist begrenzt, die Liebe aber ist unausschöpflich.




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