LebensLauf - Teil 2

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 04.01.2011


Mathis und ich sahen uns nun jeden Tag in der Schule und verstanden uns immer besser. Wir gingen zusammen zur Physiotherapie. Hier sah ich Mathis auch zum ersten Mal laufen. Das war am 1. Dezember.
***
Er stemmt sich mit seinen Armen aus dem Rollstuhl nach oben und steht. Dann dreht er den Rollstuhl und fasst ihn an den Griffen. Er stützt sich nicht darauf, hält sie aber zur Sicherheit fest. Mir fällt auf, dass er recht groß ist. 1,80m mit Sicherheit. Nun setzt er einen Fuß vor den Anderen.
Zwar macht Mathis kleine Schritte, aber: Er geht! Anfangs konzentriert er sich auf jede einzelne Bewegung, seine ganze Aufmerksamkeit liegt auf seinen Schritten, dann aber sieht er flüchtig zu mir hinüber. Ich habe noch nie gesehen, dass jemand mit den Füßen soviel zeigen kann.
Sie stecken nur in Socken, so ist es für ihn einfacher. Sie zeigen seine Willenskraft, drücken aber auch so etwas wie Angst aus. Behutsam und gleichzeitig entschlossen hebt er das rechte Bein an, setzt seinen Fuß ein Stück weiter nach vorn und verlagert sein Gewicht auf dieses Bein. Dann macht er dasselbe mit seinem linken Bein.
Ich soll gerade Fahrrad fahren, liege auf dem Rücken mit den Beinen in der Luft. Er lächelt mir zu und ich hebe den Daumen. Er runzelt die Stirn, dann schiebt er den Rollstuhl mit einer entschlossenen Bewegung von sich weg. Jetzt steht er frei, läuft mit immer “wagemutigeren” Schritten seine Runden durch den Raum. Er ist nicht schnell, hat die Arme zur Seite gestreckt. Dennoch, ist das, was Mathis gerade tut, so beeindruckend wie nichts anderes, was ich bis dahin gesehen hatte.
Nach 3 Minuten ist er völlig erschöpft. Er setzt sich, mit äußerster Sorgfalt auf den Boden, streckt die Beine aus und lehnt den Kopf gegen die Wand. Auf seiner Stirn haben sich Schweißperlen gebildet.
“Manchmal kann ich mehr laufen. Aber heute bin ich nicht so gut.”, sagt er.
Ich bin immer noch sprachlos.
“Das war… einfach toll!”, bringe ich hervor.
***
Ich sah ihn noch öfter laufen. Der Physiotherapeut hatte ihm geraten, zu üben, wann immer er sich dazu in der Lage fühlte. Von Tag zu Tag verstanden wir uns besser. Wir gingen zusammen zur Schule und bald auch zusammen nach Hause. Am 12.Dezember hatte mein Vater Mathis eingeladen für den Rest seines Aufenthaltes bei uns im Gästezimmer zu übernachten, anstatt in der Klinik.
Am Abend des 14. Dezember erzählte Mathis zum ersten Mal von seiner Familie.
***
“Wenn du mal mit deinen Eltern telefonieren willst, das ist schon OK.”, schlägt mein großer Bruder Justus Mathis vor und wischt sich seine Hände an der zerrissenen Jeans ab.
“Ich habe keine Eltern.”, erklärt Mathis nüchtern. “Meine Mutter hat mich in einem Kinderheim abgegeben, als ich ein Baby war.”
“Oh, das tut mir leid! Ich wusste nicht…”, stammelt Justus.
Ich bin bestimmt genauso erstaunt wie er. Ich habe ihn einmal gefragt, ob er Geschwister hat, habe aber auf sein “Nein” auch nicht weiter nachbohrt.
“Ich weiß nur, dass meine Mutter eine Sportlerin war und sie kein Kind bei dieser Arbeit haben wollte. Über meinen Vater weiß ich gar nichts. Aber es ist nicht schlimm für mich. Das Kinderheim ist jetzt meine Familie.”
Und damit ist das Thema vom Tisch.
***
Im Laufe der Zeit lebte sich Mathis bei uns ein. Alle betrachteten ihn schon als Teil der Familie und ich bemerkte etwas, das mich zunächst mit Sorge erfüllte. Am 20. Dezember waren wir beide (wieder einmal) bei Dr. Schlegel.
***
“Hey Julia!”, begrüßt mich Hannes, als ich in die Cafeteria den Krankenhausen komme. “Wo hast du denn deinen gut aussehenden Begleiter gelassen?”
“Wieso.. Ach.. Mathis? Der ist beim Doc.” Ich setze mich an den Tisch neben der Theke.
“Ist der nichts für dich?”, fragt Hannes.
“WAS?”, frage ich zurück.
“Ich mein’ ja nur. Geht mich ja nichts an, aber du magst ihn schon, oder?”
“Mögen… Mögen tu’ ich dich auch.”, entgegne ich.
“Au, das war hart. Willst du etwa sagen, wir sind nur Freunde?”, fragt er mit gespieltem Entsetzen und lässt seine Unterlippe zittern.
“Schwachkopf!”, lache ich. “Pass auf, wenn ich das deiner Freundin sage…”
“Oh nein, jetzt hast du mich in der Hand!”, witzelt Hannes und eilt in den Hinterraum, wo seine Chefin ruft. Ich muss auch hoch zu Dr. Schlegel, damit er mich untersucht. Während ich die Fragen des Arztes beantworte, gehen mir Hannes’ Worte nicht mehr aus dem Kopf.
Irgendwie habe ich Mathis schon sehr gern und wenn er lacht, muss ich mitlachen. Wenn ich daran denke, dass er Anfang Januar nicht mehr da ist, habe ich dieses Ziehen in der Magengegend. Manchmal, wenn ich ihn beobachte, wie er bei uns versucht aus eigener Kraft die Treppe zu meinem Zimmer hinaufzugehen, ist meine Brust wie zugeschnürt und ich weiß nicht, warum. Da ist dieses Kribbeln auf der Haut, wenn er, völlig unvermittelt mein Haar berührt oder mich zufällig berührt, oder wenn ich ihm bei seinen Laufübungen zur Sicherheit die Hand gebe.
Aber verliebt? Ich will nicht in Mathis verliebt sein, erstens, weil er bald wieder auf einem anderen Kontinent ist und zweitens, weil er diese Gefühle nicht erwidert. Er hat mich gern, das weiß ich, das sehe ich. Aber er verhält sich so, wie ein guter Freund. Warum auch immer macht mich das traurig.
***
Am 22.Dezember war ich mit Mathis in der Stadt, um die letzten Weihnachtsgeschenke einzukaufen. Auf dem Rückweg begegneten uns dieselben Jugendlichen, die mich einen Monat früher auf meinem Weg in die Klinik beschimpft hatten. Sie ließen auch diesmal nicht von uns ab, doch Mathis holte unvermittelt Schwung und fuhr dem Jungen über den Fuß. Allem Anschein nach tat das weh und ich entdeckte meinen Hang zur Schadenfreude. Am 23.Dezember, dem ersten Ferientag hatte Mathis eine Überraschung für mich.
***
“Gewonnen!”, höre ich meinen Bruder von oben schreien. Er verbringt den Tag mit Computerspielen. Ich liege auf dem Sofa im Wohnzimmer und lese. Mathis hört allem Anschein nach Musik, und murmelt französisch vor sich hin. Dann bricht die Musik ab, ich höre, wie sich seine Tür öffnet.
Er kommt zu mir ins Wohnzimmer.
“Ich habe eine Überraschung.”, sagt er. Ich sehe den CD-Player auf seinem Schoß. Er steckt das Kabel in die Steckdose und steht langsam auf. Dann kommt er vorsichtig zu mir herüber.
“Ich habe Walzer tanzen gelernt!”, seine dunklen Augen blitzen vor Übermut.
“Bist du sicher, dass du das machen möchtest?”, frage ich ihn.
“Ich bin sicher. Wenn es nicht klappt, ist es nicht so schlimm, aber heute fühle ich mich gut dafür.”
Es ist ein sehr langsames Stück und ich spüre die Kraft, die er aufbringen muss, einfach um zu Tanzen. Manchmal fasst er mich an der Hüfte etwas fester oder drückt meine Hand. Einmal keucht er ein bisschen. Doch die ganze Zeit sehe ich die Freude über den Erfolg in seinen Augen.
Jeder Schritt ist präzise genau an die richtige Stelle gesetzt. Ich merke nicht, dass mein Bruder in der Tür steht, Mathis’ Hand auf meiner Hüfte verursacht ein leichtes Schwindelgefühl und ich kann mich nur noch auf uns konzentrieren. Bei den letzten Tönen verbeugt er sich, ganz nach alter Schule und ich mache einen Knicks, wie ich es in der Tanzschule gelernt habe. Mein Bruder, den ich jetzt erst wahrnehme, klatscht Beifall. Dann setzt Mathis sich, schwer atmend, auf den Boden.
“Ich habe getanzt!Seht ihr? Wie jeder Andere auch!”, sagt er, mit einem Leuchten in den Augen. "Eine Minute und 34 Sekunden lang.” Er bekräftigt das, indem er auf die Hülle der CD zeigt: Langsamer Walzer………… 1:34





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