LebensLauf

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 03.01.2011


Meine Geschichte begann an einem Oktobertag. Sie handelt von Hoffnung und Verzweiflung, von Freude und Trauer. Es ist eine Geschichte über großes Glück und gleichzeitig über Angst, Mut, Zorn und Enttäuschung.

Eigentlich begann sie wohl viel früher. Aber der Teil, der wirklich zählt, begann eben an diesem Nachmittag im Oktober. Sehr klar erinnere ich mich nicht mehr daran, jetzt scheint mir ewig her, was erst vor ein paar Monaten geschah.
***
An diesem Tag bin ich in der Klinik. Wieder einmal. Bei mir ist im Alter von vier Jahren eine Muskelkrankheit festgestellt worden. Normalerweise dürfte ich damit gar nicht laufen können. Oder überhaupt meine Beine bewegen. Darum wurde ich von Arzt zu Arzt geschickt bis die Krankheit endgültig als diese diagnostiziert werden konnte.
Darauf kommt Dr. Schlegel, der mir inzwischen bekannter war als einige meiner Klassenkameraden auch an diesem Tag zu sprechen. Er erzählt davon, dass er Nachricht aus Kanada erhalten habe. Dort sei “jemand, bei dem das selbe Phänomen auftreten würde, wie bei mir. Trotz Krankheit.”
“Hä? Phänomen?”, frage ich und sehe verwirrt in sein schmales Gesicht. Seine Haare sind mit den Jahren grau geworden, das fällt mir jetzt auf.
“Nun, der Junge ist ebenfalls in der Lage zu Laufen, nach meiner Information.”
Das ist typisch für ihn, denke ich und wickle eine meiner braunen Locken um meinen Zeigefinger. Etwas für mich völlig Normales bezeichnet er als “Phänomen“. Ich lehne mich im Behandlungsstuhl zurück. Ich will hier raus. Was soll ich denn bitte hier? Mir geht es schließlich so wie immer. Und was interessiert mich so ein komischer Kanadier? Moment… “Kanadier” ist doch ein Boot. Wie sagt man dann zu den Einwohnern Kanadas?
“Hallo? Hörst du mir zu?”, unterbricht mich Dr. Schlegel. “Hör mal, ich verstehe ja doch ganz gut, dass du von alldem nichts wissen willst. Aber du solltest es dennoch bedenken.”
“Was denn?”, frage ich. Mist, jetzt weiß er, dass ich gar nicht zugehört habe.
“Ach, du machst es mir mal wieder schwer… Ups, eigentlich dürfte ich so etwas zu Patienten nicht sagen.”, sagt er und grinst mich an.
***
Im Grunde ging es ihm darum, dass ich zu diesem Jungen nach Kanada gehen sollte. Er meinte, einem kleinen Jungen könne man wohl kaum zumuten, von Kanada nach Deutschland zu kommen und es sei wichtig, uns an einem Ort zu haben. Mit meinen Eltern hatte er später auch gesprochen. Er sagte, dass wir untersucht werden müssten um herauszufinden warum die Krankheit bei uns so schwach ausfällt. Und das man dadurch wichtige neue Erkenntnisse bekommen könne. Oder so ähnlich.
Allerdings weigerte ich mich strikt, nach Kanada zu gehen. Ich verbrachte meiner Meinung nach schon genug Zeit im Krankenhaus. Auch meine Eltern waren nicht gerade begeistert, mich nach Versuchsobjekt in einen anderen Teil der Welt zu schicken. Sie lehnten ab.
Dabei blieb es für mich auch. Bis zum 28. Oktober
***
“Hey, Krüppelmädchen!”, ruft ein Junge mit Basecap und Hip-Hop-Hose von der anderen Straßenseite zu mir herüber. Seine stark aufgetakelte Begleiterin lacht. Ich gehe schneller, wobei meine Füße mal nach Innen, mal nach Außen wegknicken. Die stützende Muskulatur um den Knöchel fehlt.
“Los, schneller watscheln!”, kreischt das Mädchen.
“Watschelente!”, ruft der Junge. Ich kann nicht wegrennen. Ich hatte heute Sport und wenn ich jetzt noch renne wird mir sicher schwindelig. Ein Schutzmechanismus meines Körpers: Wenn ich mich zu sehr anstrenge, macht mein Kreislauf schlapp. Also muss ich mich wohl wehren.
“Lasst mich in Ruhe, ihr Idioten!”, schreie ich. Dann biege ich ab, stehe vor der Bushaltestelle und zu meinem Glück kommt auch gleich ein Bus. Es ist der Falsche, aber ich will nur weg von hier. Dann fahre ich eben irgendwie anders zum Krankenhaus.
Eine dreiviertel Stunde später komme ich tatsächlich dort an. Dr. Schlegel macht mit mir die übliche Routineuntersuchung: einmal im Monat muss ich seine Fragen beantworten und ein bisschen hin- und herlaufen, damit er mir andere Bandagen für die Gelenke verschreibt oder neue Physiotherapiestunden. Diesmal kommt auch ein Belastungstest dazu: Ich muss auf einem Laufband gehen, wobei ständig Puls und Blutdruck gemessen werden.
Während ich dort laufe, erzählt Dr. Schlegel mir, dass dieser Junge aus Kanada, nachdem er erfahren hat, dass ich nicht nach Amerika will, vorgeschlagen hat, nach Deutschland zu kommen. Ich habe keine Ahnung, warum er das macht, vielleicht können einen die Ärzte in Kanada ja zu so etwas zwingen.
Nach der Behandlung “krieche” ich in die Cafeteria. Dieser Fitness-Test hat mir den Rest gegeben.
Ich nehme ein Tetrapack Orangensaft.
Bei Hannes, der nach der Schule hier aushilft, bestelle ich außerdem einen Hotdog.
“Hey, du hinkst wieder.”, sagt er. Er ist der Einzige, der so etwas sagen kann, bei ihm weiß ich, dass er es nicht böse meint.
“Ja, der Doc hat mich strampeln lassen.” Ich grinse ihn an. Unter seiner weißen Kappe, die Pflicht für Mitarbeiter der Kantine ist, schauen einige Fransen seiner blonden Igelfrisur hervor.
“Ich hab in genau…”, er sieht auf die Uhr, “acht ein halb Minuten Schluss. Setz dich schon mal. Ich komm dann zu dir.”
Ich setze mich an einen freien Tisch und sehe zu, wie Hannes einer Oma den Kaffeeautomaten erklärt. Seit er vor einem halben Jahr hier angefangen hat, sind wir so etwas wie Freunde geworden.
“Ich hab diesen Arzt nach dir gefragt, aber der meinte nur, er kann mir keine Auskunft geben. Beichtgeheimnis oder so..!”, erklärt er, als er mir dann gegenüber sitzt und den weißen Kittel mit der Aufschrift “Hier schmeckt’s immer” abstreift.
“Ärztliche Schweigepflicht, Döskopf!”, lache ich.
“Weiß ich selbst. War nur, um dich ein bisschen zum Lachen zu bringen. Was ist denn eigentlich los? Hast du die fröhliche Julia ganz zu Hause gelassen oder einfach nur einen schlechten Tag gehabt?”, fragt er.
“Na, heute Nachmittag meinten so ein paar Heinis sich über mich lustig machen zu müssen. Aber da steh ich drüber.”, sage ich bestimmt.
“Klar tust du das. Du bist stark.” Wieder lächelt er. Ich auch. “Stark” ist sicher nicht das richtige Wort für jemanden mit einer 5 in Sport.
***
Irgendwann musste Hannes gehen und ich wurde von meinem Vater abgeholt.
In den nächsten Tagen dachte ich darüber nach, wie ich meine Arbeiten und die Unmengen an Hausaufgaben schaffen sollte, mit denen uns die Lehrer quälten. Ich hatte genug Zeit, in den Pausen zu lernen. Die anderen in meiner Klasse akzeptierten mich zwar, aber das war es auch schon. Hannes war auf einer anderen Schule, also gab es niemanden der seine Pause mit mir verbrachte. Zweimal in der Woche musste ich zur Physiotherapie. Ich hatte so viel zu tun, dass ich über dieses “Projekt Kanada” nicht mehr nachdachte, und die Sache völlig ausblendete. Am 30. November musste ich mich überraschend wieder damit befassen. Gezwungenermaßen.
***
Meine Turnsachen habe ich schon an, wie alle anderen, bin aber trotzdem (wie alle anderen) noch nicht in der Sporthalle. Erstens hasse ich Sport: jede Minute Dauerlauf ist eine verschwendete Minute. Und zweitens möchte ich nicht die Erste in der Turnhalle sein. Es klopft an die Tür der Umkleide. Die laute, schneidende Stimme des Rektors dringt zu uns herein.
“Seid ihr bald fertig da drin?”, quietscht er. Murrend setzen wir uns in Bewegung. Man sollte Schwierigkeiten mit unserem Direx lieber aus dem Weg gehen. Eine Mitschülerin öffnet die Tür. Augenblicklich sind alle still und ich setze mich lieber wieder.
Vor der Tür stehen neben dem Rektor Doktor Schlegel und ein Junge im Rollstuhl. Ich bin erst einmal erstaunt meinen Arzt (ohne Kittel, sondern im braunen Strickpullover) in der Schule zu treffen. Außerdem frage ich mich wer dieser Junge ist und was die Beiden ausgerechnet hier machen.
“Das ist Mathis Stemmelen. Er ist hier wegen einer Art… Austauschprojekt.”, piepst der Rektor. “Ihr geht jetzt alle zum Sport, sonst sehe ich mir eure Mitarbeitsnoten dieses Jahr extragründlich an!”
Der Junge namens Mathis spielt am obersten Knopf seines grün karierten Hemdes herum.
“Julia, du bleibst bitte da.”, bestimmt Schlegel.
Na gut, denke ich, bleibe ich eben sitzen. Und werde angestarrt von allen anderen Mädchen der Klasse. Gaaaanz toll…
“Hallo, ich bin Mathis. Ich bin siebzehn Jahre alt und komme aus Kanada.”, stellt sich mir der fremde Junge vor. Er spricht beinahe akzentfrei, nur einen Hauch Französisch kann man erahnen.
“Du bist, ähm, ich meine, Dr. Schlegel hat gesagt, dass du sehr viel jünger bist…”, verwirrt sehe ich zu meinem Arzt herüber.
Der Doktor zuckt mit den Schultern: “Ja, ich war auch erstaunt, als ich mit einem Luftballon zum Flughafen ging und auf einmal diesem junge Mann gegenüberstand” Er öffnet seine Tasche und zieht einen leicht gequetschten Rennauto-Gasluftballon hervor.
Mathis lacht und wirft dabei den Kopf nach hinten. Sein Lachen spiegelt sich in seinen dunklen, leuchtenden Augen wieder.
“Ich nehme den Ballon gerne trotzdem.”, erklärt er. Stumm überreicht Dr. Schlegel ihm die Schnur. Dann fummelt er am Ärmel seines Strickpullovers herum, schiebt ihn zur Seite und sieht auf die Uhr.
“Tja, ich muss los. Ihr beide geht jetzt am besten in die Turnhalle. Übrigens, Julia, mit deinem Schuldirektor ist alles abgesprochen, für die Zeit seines Aufenthaltes geht er hier zur Schule. Mit der Sprache hat er ja offensichtlich keine Probleme. Ich hab es wirklich eilig! Auf Wiedersehen!”
Und schon ist er weg. Und ich sitze einem völlig fremden Typen gegenüber. In meinen Sportsachen.
“Gehen wir in den Sportraum?”, fragt er mich lächelnd.
“Lieber noch nicht. Ich will erst ein paar Minuten Sport ausfallen lassen. Ich hasse Sport.”
Er starrt mich mit großen Augen an, reißt den Mund auf. Auf seinem Gesicht lese ich Entsetzen ab oder viel mehr Erstaunen.
“Hast du mich verstanden?”, frage ich ihn.
“Du machst in dem Sportunterricht mit?”, fragt er zurück. “Brauchst du keine Rollstuhl?”
“Ich habe gar keinen.”, sage ich leise.
“Du laufenst - sagt man das so? - allein? Immer?”
In seinem Gesicht liegt so etwas Besonderes. Wie bei einem kleinen Kind, das zum ersten Mal eine Seifenblase sieht und jede Farbnuance bewundert. Ich nicke.
“Es heißt >du läufst< aber das ist nicht schlimm. Woher kannst du so gut deutsch?”, lenke ich das mir etwas peinliche Thema in eine andere Richtung.
Mathis hat sich wieder gefangen. “Ich komme aus Quebec. Das ist eine Region in Kanada, wo man Französisch und Englisch spricht. Ich kann auch beides. Deutsch ist meine erste Fremdsprache.”
“Das heißt, du sprichst drei Sprachen?”, frage ich.
“Ja und ich möchte noch mehr lernen, damit ich später Bücher übersetzen kann, als Beruf.”, erzählt er mir.
“Das hört sich gut an.“, sage ich und seufze. “Ich glaube, wir müssen jetzt wirklich zu Sport gehen. Sonst ist meine Lehrerin sauer.”
“Gut.”, er nickt. Dabei rutscht ihm eine dunkelblonde Haarsträhne ins Gesicht. Dann wendet er, rollt zur Tür. Ich stehe auf und gehe ihm hinterher.
“Wow”, sagt er. Nur, weil ich laufe.
Alle Augen sind auf uns gerichtet, als wir in die Halle kommen. Alle bleiben stehen.
“Laufen! Laufen, Laufen, Laufen! Nicht stehen! Wir sind im Sport und nicht beim Seniorentreff!”, schreit die Sportlehrerin. “Julia, du kannst gleich mitlaufen. Du hast schon genug verpasst. Der junge Mann kommt zu mir herüber, ich weiß schon bescheid.”
Und ich laufe. Jedes Mal, wenn ich eine Runde geschafft habe, komme ich an der Lehrerin und an Mathis vorbei. Ich habe den Laufstil eines lahmen Pinguins und bin sicher nicht schneller als die Schildkröte meines Bruders, trotzdem zeigt Mathis mir nach jeder Runde einen erhobenen Daumen.
“Hey, wer ist denn dieser Typ eigentlich?“, fragt mich Jens. Er ist auch in meiner Klasse. Sicher her ihm irgendein Mädchen schon erzählt, was los war, aber er will es noch einmal aus “erster Hand wissen”.
“Kanada. Kann… nicht sprechen… laufen.”, keuche ich.
Ich sehe auf die große Uhr. Sechs Minuten bin ich schon gelaufen. Noch vier Minuten, dann bekomme ich eine “5-”. Das MUSS ich schaffen. Wenn nicht stehe ich auf “6” in Sport. Ich rufe mir mein Ziel immer wieder vor Augen. Oh Gott, ist mir schwindelig, aber da denke ich nicht dran.
Ich stelle mir vor, vor irgendwelchen Fieslingen davonzulaufen, die mich “Watschelbein” nennen und zwinge mich zu jedem weiteren Schritt.
Irgendwann sind die zehn Minuten tatsächlich um. Jetzt muss ich noch die Runde beenden, und ich habe es geschafft. Genau vor der Lehrerin lasse ich mich fallen, keine zwei Meter schaffe ich mehr. Mir brummt der Schädel.
“T‘as reçu! Du hat es geschafft und du warst sehr schnell! Zehn Minuten ohne Stopp. Wirklich: Ich habe die Uhr gesehen!” Mathis spricht mit echter Begeisterung.
“Na, so toll war sie jetzt nicht. Fünf minus. Gerade so. Also du bist wirklich mit Abstand die Schlechteste in meiner Klasse. Wie du dich mit dieser Kondition überhaupt bewegen kannst…”, Frau Haller schreibt meine Note in ihr Notenbuch und schüttelt mit dem Kopf. “Jaja, die Faulheit macht uns alle zu Schwächlingen.”
Mathis sieht mich an. “Hat sie gesagt du bist… also du kannst nicht laufen wie die Anderen, weil du faul bist?”
“Ja.”, sagte ich und zucke mit den Schultern.
“Aber… aber”, die Empörung steht Mathis, im wahrsten Sinne des Wortes, ins Gesicht geschrieben. Mir fällt auf, dass jede Gefühlsregung für seinen Gegenüber sofort in Mathis’ Augen sichtbar ist.
“Schon gut.”, beruhige ich ihn. Von der Lehrerin bin ich derlei Erniedrigungen gewöhnt. Ich habe ihr von meiner Krankheit erzählt, aber sie sagte nur: “Wer schwache Muskeln hat, muss sie mit Sport aufbauen.” Das war alles.
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Dies ist der Anfang meiner ersten Geschichte. Fortsetzung folgt.
Eine kurze, zusammenfassende Charakterisierungder Figuren findet ihr im letzten Teil.





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