Willkommen in meinem Leben

Autor: Lydia
veröffentlicht am: 03.12.2010


Ich trete aus der Klinik und schnuppere die frische und klare Luft, die im Schwarzwald im Frühling immer herrschte.
Es ist das erste Mal seit Monaten, dass ich mich an etwas anderem erfreuen kann, außer an einem neuen Gewichtsverlust. Ich denke seit langer Zeit mal wieder an etwas, das nichts mit meinem Essverhalten oder mit der Anzahl der Kalorien zu tun hat, die ich am Tag zu mir genommen hatte. Diese Anzahl bewegte sich gegen Ende meiner Krankheit gefährlich gegen null.
Doch das habe ich nun hinter mir gelassen. Ebenso wie die langen, schwarz gefärbten Haare, die ich bis vor drei Wochen noch trug. Mittlerweile sind meine Haare schulterlang und sie haben durch Bleichen wieder meine Naturhaarfarbe: haselnussbraun mit einem Rotstich.
Ich seufze tief und schaue mich nach dem silbernen Mercedes meiner Eltern um.
Der Wind weht mir durch die Haare und ich atme erneut tief durch, und zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich mich wieder gut – richtig gut, mein ich.
Ohne schlimmen Hintergedanken, oder quälenden Hunger, ohne die Suche nach Aufmerksamkeit. Ich fühle mich einfach nur… gut.
Vielleicht liegt das an dem Duft des Frühlings, vielleicht aber auch an die Freude endlich wieder nach Hause zu können. Obwohl mich zu Hause eigentlich nichts erwartet. Ich habe durch meine Magersucht nicht nur mein Gewicht verloren, sondern so gut wie alles, was mir irgendetwas bedeutet hat. Ich habe meine Freunde vernachlässigt, meine Eltern dazu gebracht meinen Hund wegzugeben, weil ich es nicht mehr schaffte mich um ihn zu kümmern, ich schaffte es meine Schwester zu vergraulen, welche normalerweise immer auf meiner Seite stand und ich habe meinen einzigen Halt im Leben verloren: die Clique, zu der ich flüchten konnte.
Bevor ich aufgehört habe zu essen, konnte ich ja noch nicht wissen, dass diese Leute kein Halt in meinem Leben sind. Jetzt weiß ich es! Diese Leute hatten keinen guten Einfluss auf mich.
Ich starre an mir herunter und betrachte meine knochigen Knie, die in schwarzen, blickdichten Strumpfhosen stecken. Mein schwarzer Roche rutscht mir immer noch über die Hüfte und durch den roten Pulli, den ich trage, kann man immer noch jede Rippe sehen. Kaum zu glauben, dass ich mittlerweile schon fast acht Kilo schwerer bin, als an dem Tag, an dem ich die Klinik für Essgestörte eingewiesen wurde.
Ich stelle meinen Koffer neben mir ab und fahre mir durch mein dünnes, lockiges Haar.
Ich bemerkte zum ersten Mal, dass mein Körper kaputt geht, als ich sah, wie viele Haare ich beim Haare waschen verlor. Davor habe ich gar nicht richtig wahrgenommen, was ich meinem Körper mit meiner Nahrungsverweigerung überhaupt antue.
Jetzt bin ich schlauer, aber immer noch krank. Auch wenn ich wieder essen kann und auch wieder ein Hungergefühl verspüre, so brauche ich noch heute für eine normale Portion fast doppelt so lange, wie andere. Eigentlich traurig, oder?
Doch Dr. Klein sagte mir schon, dass der Heilungsprozess länger dauern würde, als zwei Monate Klinikaufenthalt.
Ich werfe einen Blick auf das eingerahmte Bild, dass ich in der Hand halte. Es zeigt mich, mit Dr. Klein und meiner Zimmernachbarin Lissy. Sie hat Bulimie. Nach jedem Essen ist sie für längere Zeit im Bad verschwunden. Man muss kein Hellseher sein, um zu wissen, was sie dort getan hat. Sie wird wahrscheinlich noch einige Zeit länger in der Klinik bleiben, als ich.
Schnell packe ich das Bild in meine schwarze Handtasche und streiche mir erneut durch mein Haar.
Ich weiß, ich sollte mich eigentlich wirklich auf zu Hause freuen. Doch schnell ist das gute Gefühl verflogen und es gibt nichts, worauf ich mich freuen könnte. Ich habe sogar Angst davor. Ich habe Angst davor, morgen wieder in die Schule zu gehen und mir Kommentare wie: „Du siehst aus wie ein Skelett“ anhören zu müssen. Ich will auch die Blicke nicht sehen; diese mitleidigen, und dennoch verhöhnten Blicke. Ich will nicht die Fragen der anderen beantworten. Ich will nicht!
Doch ich muss.
Ich muss neu beginnen. Ich muss von vorne anfangen.
Schnell krame ich meinen Handspiegel aus meiner Tasche und betrachte mein blasses Gesicht, die dunkel umrahmten Augen, meine eingefallenen Wangen; traurig sehe ich aus. Dabei sollte ich nicht traurig aussehen.
Ich wurde heute aus der Klinik entlassen, ich bin wieder fähig freiwillig etwas zu essen, ich wiege wieder 50,2kg – und das bei einer Körpergröße von 1,69m. Ich bin auf dem Weg der Besserung. Doch anstatt mich zu freuen ist mir zu Weinen zu Mute.
Seufzend packe ich den Spiegel weg und spüre plötzlich eine Hand auf meiner Schulter.
Ich zucke zusammen und schaue in das freundliche Gesicht von Dr. Klein. Er lächelt mich aufmunternd an. „Du wartest schon lange“
„Meine Mutter kommt oft zu spät“ antworte ich schlicht und ich würde seine Hand am liebsten abschütteln, welche immer noch auf meiner knochigen Schulter liegt.
„Hast du Angst?“ fragt er mich offen und direkt und ich muss eine Weile zögern. Soll ich ihm auf diese Frage überhaupt antworten, oder soll ich einfach schweigen?
Schließlich nicke ich: „Ja, ich habe Angst“
„Vielleicht ist deine Angst berechtigt“ meint er ehrlich und nimmt seine Hand von meiner Schulter. „Angst kann auch gut sein“
„Ich fürchte mich vor den Kommentare“ erkläre ich ihm und erinnere mich automatisch an eines der vielen psychologischen Gespräche, die ich mit Dr. Klein geführt habe.
Nicht selten hatte er mich mit Fragen wie „Warum willst du nichts mehr essen“ oder „Was fühlst du?“ in die Ecke gedrängt. Jedes Mal brannte es in meinem Magen und mein Kopf wollte zerplatzen und ich hätte ihm am liebsten jedes Mal ins Gesicht geschrieen: „Ich esse nichts mehr, weil ich Aufmerksamkeit will und das einzige, was ich spüre ist Hunger!!! Quälender, brennender, beißender Hunger!“ Doch ich riss mich jedes Mal zusammen und flüsterte nur: „Ich weiß es nicht.“
„Jeder, der dich wegen deines Gewichts noch versucht zu demütigen, hat keine Ahnung. Du hast soviel geleistet in den letzten Monaten. Und so viel erlebt. Du hast dich weiterentwickelt, und wer das nicht sieht, ist ein Schwachkopf, Lydia“ versucht Dr. Klein mich aufzumuntern und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
Ich weiß nicht, ob ihm das gelungen ist. Ich zucke nur mit den Schultern und schüttle gleichzeitig mit dem Kopf. „Ich…ich…“ beginne ich zu stottern, breche aber ab und schaue auf die weißen Gummikappen meiner Chucks. Dann blicke ich wieder zu Dr. Klein: „Vielen Dank… für alles, mein ich“
„Das ist mein Job“ Er zuckt mit den Schultern. „Bedanken musst du dich bei den Leuten, die dir jetzt helfen werden“
Ich nicke nur und frage dann: „Wie oft sagen sie das?“
„Pro Woche oder pro Tag?“ versucht er zu scherzen.
„Ist egal“
Wir schweigen eine Weile, dann meint er: „Oft genug, glaub mir“
Ich nicke wieder nur und sehe dann schon Weitem das Auto meiner Eltern. „Sie sind da“ flüstere ich und drücke meine Handtasche an meine Brust.
„Viel Glück für zu Hause, Lydia“ meint Dr. Klein noch. „Und eine gute Heimreise. Und schon mal herzlichen Glückwunsch für morgen“
Ich zucke erneut zusammen. Meinen siebzehnten Geburtstag habe ich komplett vergessen. Er schien mit allen anderen Dingen in meinem Leben untergegangen zu sein. Dabei habe ich mich sonst immer sehr auf meinen Geburtstag gefreut. Und jetzt habe ich ihn einfach vergessen. Leise flüstere ich: „Danke“
Dr. Klein drückt ein letztes Mal meine Schulter und dreht sich dann um und geht in Richtung Klinik, als ich noch mal seinen Namen rufe.
Fragend schaut er mich.
„Sagen Sie Lissy einen schönen Gruß“ Ich zögere und füge dann noch hinzu: „Und… sagen Sie ihr, dass ich Sie vermissen werde“
Er lächelt mich zuversichtlich an und nickt: „Ich werde es ihr ausrichten“ Dann verschwindet er durch die Glastür der Klinik und ich stehe wieder allein da.
Nur wenige Minuten später parkt das Auto meiner Eltern vor der Klinik und meine Mutter springt aus dem Auto: „Lydia!“ ruft sie. Ihr Blick ist eine Mischung aus Mitleid und Freude. Ich habe keine Ahnung, was ich von diesem Blick halten soll.
Nach meiner Mutter steigt mein Vater aus und beide kommen auf mich zu. Ich mache keine Anstalten ihnen entgegen zu kommen.
„Gut siehst du aus“ meint mein Vater und ich weiß, dass er lügt, doch ich schweige und lasse mich von ihm drücken.
Danach schließt mich meine Mutter fest in ihre Arme: „Wir haben dich vermisst, mein Schatz“
Der letzte Besuch war auch schon fünf Wochen her, erinnere ich mich.
Ich mache mich von meiner Mutter los und schaue meine Eltern an: „Ich habe euch auch vermisst“
„Siehst immer noch sehr dünn aus – wie viel wiegst du?“ fragt meine Mutter prüfend und bei dieser Frage schlucke ich meine Tränen hinunter: „50,2 – können wir jetzt nach Hause. Ich will hier nicht mehr länger bleiben“
„Ja, sicher, mein Schatz. Papa nimmt deinen Koffer“ Als wäre ich sterbenskrank legt meine Mutter stützend ihren Arm um mich.
„Es geht mir gut, Mama“ Ich befreie mich aus ihrer halben Umarmung und steige schnell in das Auto, bevor meine Eltern noch mal auf die Idee kommen mich zu umarmen. Natürlich freue ich mich, sie wieder zu sehen. Doch ich muss das alles erst einmal verdauen, ich muss meine Gedanken erst einmal wieder ordnen können; ich muss wieder lernen mit meinem Leben klar zu kommen.
Bevor ich die Autotür zuschlage, schaue ich ein letztes Mal auf das weiße Gebäude, mit den dunkelbraunen Fensterläden und dem Balkon auf dunkelbraunem Holz, das für die letzten zwei Monaten mein zu Hause darstellte.
Diese Zeit war nicht unbedingt schön, doch sie gehört nun mal zu meinem Leben dazu. Ich kann sie nicht einfach ausradieren, auch wenn ich das gerne würde – doch ich kann es nicht.
Schnell wische ich mir über die Wange und streiche damit eine Träne weg. Meine Hände sind knochig und blass wie der Rest meines Körpers und es wird denke ich, noch eine Weile dauern, bis ich mein Normalgewicht wieder erreicht habe.
Heftig schüttele ich mit dem Kopf und knalle die Autotür zu.
Meine Eltern stehen noch draußen und diskutieren. Bestimmt über mein Verhalten, über meine Gesundheit, über mein dies, über mein das – über mich!
Das war doch die Aufmerksamkeit, die ich die ganze Zeit haben wollte. Das war die Aufmerksamkeit, weshalb ich aufgehört hatte zu essen.
Warum war ich nicht glücklich?!
Nach wenigen Minuten steigen auch meine Eltern ins Auto und mein Vater dreht sich zu mir um: „Bereit wieder nach Hause zu kommen?“
Ohne zu zögern schüttele ich mit dem Kopf und steckte mir meine Kopfhörer ins Ohr und starte den Mp3-Player meines BlackBerrys.
„Lass sie“ höre ich meine Mutter noch leise sagen, und mein Vater nickt nur und dreht sich um und startet den Motor.
In einer geschmeidigen Bewegung fährt der Mercedes los und ich lehne den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe und schließe die Augen, nachdem die Klinik nicht mehr zu sehen ist.




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