Die Damen von Bradshaw - Teil 6

Autor: LaDameParis
veröffentlicht am: 31.12.2010


Rose lag im Ruderboot und ließ sich auf dem See treiben, während ich am anderen Ende des Bootes saß. Sie stopfte sich eine Traube in den Mund und richtete sich auf.
Am Ufer des Sees sahen wir Julia, Nicole, Sara und Jessica. Jessi trug schon ihr neues Kleid. Eine Woche lang hatte sie durchgehalten es nicht zu tragen. Doch dann wurde sie schwach und zog es an.
Es war ein sonniger Sonntag und die Stimmung war gut, auch weil wir keinen Unterricht hatten.
„In zwei Wochen kommen schon die Herren“ sagte Rose mit vollem Mund.
Ich nickte: „Wollen wir hoffen, dass sie gut aussehen und unter dreißig sind“
„Oh ja, denn ich habe keine Lust einen wie Mr. Rumble an der Backe zu haben“ lachte Rose und winkte Julia zu, welche beim Namen von Mr. Rumble aufgeschaut hatte.
„Warum sagt sie ihm nicht einfach, was Sache ist?“ fragte ich kühl und aß eine Traube.
„Weil ihre Eltern sonst durchdrehen würden. Und weil Rumble ein angesehener Kerl ist. Julia hat Angst vor den Konsequenzen“ erklärte Rose und wischte den nassen Traubenfleck auf ihrem lavendelfarbenen Kleid breit. „Ach, verdammt“ fluchte sie. „Jetzt muss ich mich wieder umziehen…“ Sie stockte, als sie hinter mir am Ufer Jane angerannt sah.
Ich drehte mich um, um zu sehen, was hinter mir los war.
„Mr. Bradshaw ist angekommen“ rief sie uns zu und keuchte. Anscheinend ist sie die ganze Zeit gerannt.
Rose riss die Hände zum Himmel: „Jetzt habe ich noch nicht einmal Zeit mich umzuziehen“
Ich lächelte kühl und nahm eines der Ruder in die Hand.
„Julia!“ hörte ich Jane weiter rufen. „Mr. Bradshaw ist da. Wir sollen alle in die Halle!“
„Seht ihr!“ lachte Jessica triumphierend und sprang auf. „Ich dachte mir schon, dass es gut ist, mein neues Kleid anzuziehen“
Nicole murrte etwas unverständlich und versuchte ihr Haare zu legen.
„Warum sind alle so aufgeregt, wenn Mr. Bradshaw kommt?“ fragte ich und schaute zu Rose.
„Weil er immer schaut, ob wir schöne Damen sind. Wenn er jemanden gar nicht leiden kann, kann er uns, neben Mrs. Bradshaw nach Hause schicken“ erklärte sie.
Ich wollte noch etwas sagen, wurde aber von Sara unterbrochen, welche sich kreischend einen Käfer aus den Haaren zog.
Rose lachte und hielt sich aber erschrocken die Hand vor den Mund. Sie wollte Sara eigentlich gar nicht auslachen.
„Beeilt euch!“ drängte Jane, welche immer noch am Ufer stand. Rose und ich ruderten schneller.
„Spring mal raus, hier ist das Wasser nicht tief genug. Wir können hier nicht weiterrudern“ wies mich Rose zurecht. Ich schenkte ihr einen arroganten Blick, auf welchen sie zurückwich. Doch ich wollte keinen Stress und zog meine Schuhe aus. Dann schwang ich mich über das Boot und stand bis zu den Knöcheln im Wasser. Mühsam zog ich das Boot ans Ufer und Rose sprang heraus.
Ich zog mir meine schwarzen Schuhe wieder an und wrang den Rocksaum meines dunkelroten Lieblingskleides aus.
„Du weiß aber schon, dass du dich nicht mehr umziehen kannst“ sagte Jane hinter mir zaghaft.
Ich nickte und hätte beinahe lachen müssen, als ich mir uns neben einander vorstellte. Jane mit streng zurückgebundenem Haar und einem sauberen und trockenem rosafarbenem Kleid und ich mit einem verwuschelten hochgebundenem Zopf und einem schönen, aber nassem Kleid.
„Los, Rose. Beeil dich“ drängte Jane weiter. Rose zog hastig ihre Schuhe an, hakte sich bei mir unter und rannte los.
Julia, Nicole, Sara und Jessica waren schon vorweg gerannt und ich sah nur noch Jessis eisblaues Kleid in der Tür verschwinden.
„Wo ist Elly?“ keuchte Rose.
„Sie war in der Bibliothek. Sie wird wohl die einzige sein, die pünktlich ist“ antwortete Jane und riss die Tür auf, als wir alle zum Stehen kamen.
Im Foyer stand ein Junge, der vielleicht zwei oder gar drei Jahre älter war, als ich. Schnell senkte Jane den Kopf und machte einen Knicks: „Guten Abend“ Auch Rose machte einen Knicks. Ich senkte nur den Kopf.
„Guten Abend, die Damen“ Er hatte eine tiefe aber dennoch melodische Stimme. Sein schwarzes Haar hing ihm leicht wirr in den Augen, trotzdem sah er gepflegt aus. Seine Augen hatten die Farbe vom tiefsten Meer – ein richtiges Dunkelblau.
Ich hob wieder den Kopf und sah, dass er mich anschaute. Schnell stupste mich Rose an: „Los, weiter“
Jane machte noch ein Mal einen Knicks und lächelte: „Auf Wiedersehen“
Mit leisem Klopfen traten wir in die Halle, wo schon alle Oberstufenmädchen standen. Mrs. Bradshaw schaute leicht erbost auf. Neben ihr stand ein hoch gewachsener Mann mit schwarzen Locken und einem kleinen Schnauzer. Seine hellblauen Augen schienen mich förmlich zu durchbohren.
„Ihr seid zu spät, meine Damen“ tadelte uns Mrs. Bradshaw.
Jane machte sofort einen Knicks und senkte den Kopf: „Guten Abend, Mrs. Bradshaw. Guten Abend, Mr. Bradshaw“
Auch Rose machte einen Knicks, nur ich blieb bei meinem typischen Kopfsenken.
„Na ja, Pünktlichkeit scheint nicht die Stärke von Ihnen zu sein“ meinte Mr. Bradshaw abfällig. „Bis auf Miss Middleton, welche vorbildlich pünktlich war“
Elly lächelte, doch ihr Lächeln schwand sofort, als Mr. Bradshaw fortfuhr: „Schade, dass ihr Äußeres so wenig ansprechend ist“
„Ja, wirklich bedauerlich“ stimmte Mrs. Bradshaw ihrem Gatten zu.
Julia konnte ein Kichern nicht unterdrücken, doch Mr. Bradshaw sah darüber hinweg und schaute mich wieder durchdringend an. „Wie ich sehe, haben wir ein neues Mädchen in Bradshaw“
„Ja, mein Liebster, das ist Miss Lillian Marie Worthem“ erklärte Mrs. Bradshaw.
„Lilli, bitte“ bemerkte ich, und Rose verzog den Mund zu einem Grinsen.
„Bitte?“ hakte Mr. Bradshaw nach.
„Sie kann es nicht leiden, wenn man sie Lillian nennt“ sagte Nicole spöttisch und schaute mich triumphierend an. Das war die Rache für letzten Samstag.
Mr. Bradshaw musterte mich misstrauisch: „Na, wie dem auch sei“ sagte er und nahm schließlich mein Kinn in die Hand. Er drehte meinen Kopf von rechts nach links: „Ein ganz hübsches Mädchen, bist du“ meinte er. „Keine typische Schönheit…Nicht wirklich hübsch oder schön, aber niedlich. Durch die großen Augen“ Er schaute zu seiner Gattin, welche zustimmend nickte.
Sara tuschelte irgendetwas mit Julia.
Wieder wurde mein Kopf gedreht. Ich hatte wirklich keine Ahnung, was das sollte. „Ein wenig klein“ bemerkte Mr. Bradshaw.
„Wenn ich bemerken dürfte, dass ich keine Puppe bin, der Herr“ erinnerte ich ihn höflich und befreite mich und trat zurück, als ich gegen jemanden stieß. Ich drehte mich herum und trat wieder einen Schritt zurück: „Verzeihung“ Ich senkte den Kopf und vernahm Mr. Bradshaws Stimme hinter mir: „Etwas ungezogen, Virginia. Eine kleine störrische Stute. Doch auch die können wir glatt bügeln“
Vor mir stand der Junge aus der Halle. Er schaute mich kühl und arrogant an und ich wurde etwas unsicher, wollte es mir aber nicht anmerken lassen.
Ich schaute wieder über die Schulter zu Mr. Bradshaw und funkelte ihn wütend an, doch er beachtete mich schon gar nicht mehr: „Lasst uns Tee im Teesalon trinken, meine Damen“ Er schaute zu dem Jungen: „Zeroel, würdest du bitte Miss Louis Bescheid sagen. Ach, und nimm Miss Worthem gleich mit. Für ihr ungezogenes Verhalten kriegt sie mit Verzögerung ihren Tee“ Damit verließen er und seine Gattin, dicht gefolgt mit den Mädchen das Foyer. Jane und Rose drehten sich noch einmal um. Während Jane voller Zuneigung lächelnd zu Zeroel starrte, schenkte mir Rose ein aufmunterndes Lächeln. Dann waren beide durch die Tür verschwunden.
„Es ist nicht gut sich mit ihm anzulegen“ sagte eine arrogante Stimme neben mir. Ich schaute zu dem Jungen hoch. „Ich bin keine Puppe“
Zeroel grinste arrogant und öffnete mir die Tür. „Ist nur ein Tipp von jemanden, dem das hier eigentlich völlig egal ist“
Ich ging an ihm vorbei und blieb dann aber stehen. Ich schaute ihn an und runzelte leicht die Stirn. „Welche Rolle spielen Sie in diesem ganzen Theater?“ fragte ich höflich, aber dennoch kühl und distanziert.
„Ich bin der Sohn von Mrs. Bradshaw“ sagte er mit einem selbstgefälligen Lächeln.
Ich erwiderte gar nichts, sondern trat nur in die Küche ein. Antonia schaute sofort auf. Sie lächelte warm: „Oh, Miss Worthem, was führt sie hierher? Und dann noch in Begleitung von…“ Sie stockte. „Oh, guten Abend Zeroel“ Sie senkte den Kopf und machte einen Knicks.
„Wir sollen sagen, dass sie den Tee im Teesalon servieren sollen“ meinte Zeroel kühl und verließ dann gleich wieder die Küche.
Ich nickte Antonia noch freundlich zu und ging dann hinter Zeroel her. Sein Name war ungewöhnlich. Für das Land und auch für die Zeit. Solch einen Namen hatte ich bis jetzt nur bei Zigeunern gehört.
„Woher kommt Ihr Name?“ hörte ich mich selber plötzlich fragen. Er blieb auf ein Mal stehen und drehte sich um. Er schaute mich kurz fragend an.
„Er ist anders“ meinte ich ruhig.
„Sie sind für ein Mädchen auch anders, als alle anderen“ sagte er und ein arrogantes Lächeln spielte sich wieder auf seinen Lippen.
Doch mein Blick blieb weiterhin fragend.
„Es ist ein alter Zigeunername“ sagte er schließlich und kehrte mir den Rücken zu.





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