Die Damen von Bradshaw - Teil 5

Autor: LaDameParis
veröffentlicht am: 22.12.2010


„Ihr habt sehr interessante Bilder gezeichnet“ meinte Miss Longburry während der nächsten Kunststunde. Sie schaute durch die Klasse. „Miss Kinnley wenn du bitte nach vorne kommen würdest“
Jessica wurde leicht rot und kam nach vorne, neben die Staffelei. Miss Longburry legte ihr Bild darauf. Es war die griechische Göttin und neben ihr ein ebenso schöner griechischer Gott. Jessica war eine begnadete Künstlerin. Sie konnte ihren Bildern unglaublich viel Leben verleihen.
„Was ist das Persönliche an deinem Bild?“ fragte Miss Longburry.
„Nun ja, ich glaube noch an die große Liebe. Und das soll meinen Glauben bestärken. Ich habe in diesem Bild die Liebe der Göttin zu dem jungen Mann zum Ausdruck gebracht“ erklärte sie.
„Ja, Liebe ist etwas Feines“ meinte auch Mrs. Longburry. „Du kannst dich wieder setzen“ Sie nahm das Bild von der Staffelei und stellte ein Neues darauf. Es stellte eine dicke, griechische Göttin dar, die Schokolade aß.
„Das ist bestimmt Ellys Bild“ zischte Nicole Julia zu und strich sich eine orange Haarsträhne aus dem Gesicht und steckte sie zurück in ihren Dutt.
„Ja, da haben Sie Recht, Miss Darcy“ sagte Miss Longburry ernst und schaute dann zu Elly: „Miss Middleton, wenn Sie uns doch bitte ihr Bild erklären würden“
Elly wurde rot wie eine Tomate und stolperte nach vorne, was natürlich mit einem Kichern von Julia, Sara und Nicole kommentiert wurde.
Auch Jessica musste grinsen.
„Na ja, ähm, also ich wollte mit der Zeichnung der Schokolade und der Pummeligkeit eigentlich nur…“ Sie wurde von Sara unterbrochen: „Dich selber darstellen?!“
Sofort lachte Julia laut los.
„Miss Bingley! Ich will Sie bitte kurz hinaus zu gehen“ sagte Miss Longburry streng. „Miss Middleton hat ein sehr schönes und persönliches Bild gezeichnet. Das sollten Sie mehr achten“
Sara schaute verwundert auf. Dann schaute sie wütend zu Miss Longburry: „Bis morgen, Miss“
Miss Longburry nickte und Sara verließ den Raum.
„Miss Middleton, würden Sie bitte fortfahren“
Elly nickte: „Ich wollte mit diesem Bild nur die Schwächen darstellen, die nicht nur eine normale Frau, sondern auch eine Göttin haben kann“
„Das ist wirklich sehr interessant“ meinte Miss Longburry. „Sie können sich wieder setzen“
Elly nickte und stolperte an ihren Platz zurück.
Miss Longburry tauschte das Bild ein letztes Mal um. „Miss Worthem, könnten sie uns bitte ihr Bild erläutern“
Ich nickte und ging nach vorne.
„Sie haben die Göttin in Ketten und hinter den Gittern eines Käfigs gezeichnet. Warum?“ Miss Longburry schaute mich erwartungsvoll an.
Ich schwieg noch eine Weile, dann fing ich an: „Ich denke, dass Göttinnen gefangen sind. Gefangen in ihren eigenen Mythen und Vorurteilen. Die Menschen haben hohe Erwartungen an sie und sie müssen sie erfüllen, um nicht als Ausreißerin dazustehen. Sie müssen die Erwartungen der Gesellschaft erfüllen, anstatt ihre eigenen. Diese Göttin ist in sich selber gefangen. In einem Käfig, den sie selber um sich herum aufgebaut hat“
Eine Weile sagte Miss Longburry gar nichts. Ich hörte nur das Getuschel von Nicole und Julia. Und wie Jessica neugierig zu ihnen blickte. Sie beugte sich näher, um mehr zu verstehen.
Dann nickte Miss Longburry schließlich: „Interessant, Miss Worthem, wirklich sehr interessant. Sie können sich setzen“

Am Abend fing es an zu regnen und wir saßen alle im Teesalon mit einer heißen Tasse Tee, die uns Mrs. Norley gekocht hat.
Jessica hatte zu wenig gepustet und schrie quietschend auf, als sie sich die Zunge verbrannte.
Ich saß in einem weichen, weißen Sessel und hatte die Beine angewinkelt.
„Dein Vortrag über die gefangene Göttin war spitze“ lobte mich Nicole plötzlich, übertrieben freundlich. „Sollte wohl deine eigenen Ansichten widerspiegeln?“
„Hast du überhaupt verstanden, was ich damit ausdrücken wollte? Trotzdem Danke, für das Kompliment“ nickte ich ihr zu und nippte an meinem Tee, als Jane den Raum betrat: „Ich habe gute Nachrichten von Mrs. Bradshaw“ Sie strahlte leicht. „Am Samstag dürfen wir alle in die Stadt fahren, um uns neue Kleider zu kaufen“
Jessica sprang auf und verschüttete beinahe ihren Tee: „Was?! Das ist ja toll. Ich wollte schon seit langem ein neues Kleid haben“
Rose nickte: „Ja, ein neues Kleid wäre schön“
„Ich muss meinen Eltern schreiben, dass sie mir Geld geben sollen. Sara? Nicole? Kommt ihr mit in die Bibliothek?“ Julia strich sich eine rote Locke hinters Ohr und stand auf. Sara und Nicole waren schon neben ihr und sie drei verließen den Teesalon.
Elly schaute fragend zu Jane: „Muss wirklich jeder mit zum Kleiderkaufen?“
„Komm schon, Elly, das wird bestimmt toll“ meinte Rose aufmunternd.
„Ich will aber nicht“ Sie legte den Arm um ihre plumpe Taille.
„Ach, komm! Meine Taille misst auch 70 cm. Das ist auch mehr, als sie soll“ meinte Jessica. Ja, Jessi war auch nicht die Zierlichste. Das lag aber auch daran, dass sie einfach zu gerne aß. Jane konnte nur nicken. Ihre Taille maß bestimmt perfekte 59cm. Sie war einfach zierlich.
„Meinst du wirklich?“ hakte Elly nach.
„Jetzt hab dich nicht so“ rief Rose, langsam energischer. „Dich muss man aber auch zu allem zwingen!“
„Ist ja gut! Ich komme mit“ meinte Elly ergebend und seufzte.
„Wir finden bestimmt ein schönes Kleid für dich, was du dann an dem Tag tragen kannst, an dem die Herren kommen“ meinte Jane höflich.
Elly nickte schüchtern. „Ja, wenn wir eines finden… Hoffentlich“ murmelte sie bitter.
Ein wenig tat sie mir schon Leid. Sie war einfach falsch in diesem Internat aufgehoben. Und dann noch ihr Satz über den Luxus aus Liebe heiraten zu könne, wovon Jessi die ganze Zeit träumte.

„Mädchen! Alle Oberstüfler in die Halle“ rief Miss Rodriguez von unten.
Ich hörte die jüngeren Mädchen maulen und stöhnen. Natürlich waren sie traurig, dass sie nicht mit in die Stadt durften. Dafür konnten die Jüngeren andere Vorzüge genießen.
Ich lief neben Jessi und Rose die Treppe hinunter, als ich auch auf Jane und Elly traf.
Unten in der Halle standen schon Nicole, Sara und Julia. Nicole hatte sich viel zu viel Puder auf die Wangen geschmiert. Es sah eher aus, wie die Mädchen, die vor jeder Bar stehen und die Männer für Geld befriedigen.
Ich sah Rose an, was sie dachte, doch auch sie hielt den Mund.
„Jessi“ rief Julia. „Ich kenne einen ganz tollen Laden, den hat mir Mr. Rumble empfohlen. Wenn du willst, nehme ich dich, Sara und Nicole gerne mit“
Jessica nahm die letzte Stufe und schaute dann zu Rose und zu mir. Dann blickte sie wieder zu Julia: „Eine toller Laden, mit schönen Kleidern?“
Sara nickte: „Julia hat mir alles über den Laden erzählt“
„Ja, ich komme mit“
„Tut mir Leid, Elly. Einen Laden mit Übergrößen kenne ich nicht“ lachte Nicole.
Ich schaute erst zu Elly, dann blickte ich kühl zu Nicole: „Und ich kenne leider die Ecke der Schlampen nicht“
Nicole fiel der Mund auf und sie stotterte irgendetwas, was keiner verstand. Jessi, Sara und Julia schauten mich geschockt an.
Jane starrte zu Boden, um ihr Lächeln, gemischt mit einem geschockten Blick zu verbergen. Elly und Rose kicherten, während ich Nicole immer noch einen eisigen Blick zuwarf.
„So, meine Damen“ hörten wir plötzlich Mrs. Bradshaws Stimme. „Es tut mir Leid, dass Sie warten mussten…“ Sie stockte. Natürlich konnten wir die angespannte Stimmung nicht verbergen. „Ist etwas passiert?“
Jane schaute schnell auf: „Nein, Mrs. Bradshaw, wir sind nur alle so aufgeregt, dass es jetzt in die Stadt geht“
„Ach so“ meinte Mrs. Bradshaw und warf uns allen noch einen prüfenden Blick zu, während sie ihren Hut zuband. Hinter ihr trat jetzt auch Miss Longburry aus der Tür.
„Ah, da sind Sie ja, Miss“ sagte Mrs. Bradshaw und nickte. Dann schaute sie wieder zu uns: „Meine Damen, los, vorwärts“
Vor mir tippelte Rose und drehte sich immer mal wieder grinsend um: „Nicole wird so schnell nichts mehr sagen“
Ich nickte nur kühl und ging auf die beiden schwarzen Kutschen zu.
Jessica drehte sich zu Mrs. Bradshaw um: „Fährt heute wieder Mr. Spence?“
„Ja, aber sicher“
Jessica strahlte und flüsterte Rose etwas zu.
Wir wurden auf die zwei Kutschen aufgeteilt.
Jessica schaute noch einmal lächelnd zu Mr. Spence, bevor sie in die andere Kutsche zu Sara, Julia, Nicole und Mrs. Bradshaw einstieg.
„Ich glaube Sie haben eine Verehrerin, Mr. Spence“ meinte ich kühl, währen die anderen einstiegen.
Tom grinste nur und schaute zu Jessica: „Keine Chance, denke ich“ Dann schaute er mich an: „Soll ich Ihnen meine Hand anbieten, Miss Worthem?“
„Nein, ich schaff’s immer noch allein“ Ich hob mein schwarzes Kleid an und stieg ein. Ich setzte mich neben Jane und Tom knallte die Kutschetür zu.
„Glaubt ihr wirklich wir finden ein passendes Kleid für mich?“ hakte Elly unsicher nach.
Rose nickte und lächelte: „Klar. Wir werden dich beraten“
„Habt ihr schon Taillenmessung gemacht?“ mischte sich Miss Longburry ein.
Jane schaute auf: „Ja, allerdings“
„Darf ich es wissen?“ Sie war also auch neugierig.
Jane nickte: „59 cm“ Gut geschätzt, Lilli, lobte ich mich selber.
Elly schaute unsicher zu uns, dann blickte sie seufzend zu Miss Longburry: „72cm“
Rose lächelte immer noch freudig: „64cm“
Ich war wohl die Letzte: „66cm“ Ich schaute Miss Longburry schräg von der Seite an: „Dürften wir auch fragen, was Ihre Taille misst“
Sie lächelte verschwörerisch, dann zischte sie uns zu: „63cm“
„Jane ist wohl die Gewinnerin unseres Taillen-Wettbewerbes“ lachte Rose fröhlich.
Jane schaute erschrocken auf und lächelte leicht. Sie wurde leicht rot: „Dabei nasche ich genauso gern wie ihr“
Rose musste nur noch mehr lachen und auch Elly lachte. Es war das erste Mal, dass ich sie richtig lachen sah.
Miss Longburry schaute mich an: „ Ihr Bild und auch Ihr Erläuterung haben mir übrigens sehr gut gefallen. Ich hätte es Ihnen gerne früher gesagt, doch ich hatte noch keine Möglichkeit dazu“
„Oh, danke“ Ich zwang mich zu einem höflichem Lächeln.
„Haben Sie in diesem Bild vielleicht auch Ihren eigenen Käfig mit eingebracht?“ hakte sie weiter nach und hob eine Braue.
„Vielleicht“ Damit drehte ich mich leicht von ihr weg und schaute aus dem Fenster: „Das was ich hier tue, ist nicht das was ich will. Ich denke, dass man es ähnlich sehen kann wie mit Erwartungen, die die Göttin zu erfüllen hat. Es sind nicht ihre Erwartungen, sondern die eines Anderen“
„Sehr philosophisch“ staunte Miss Longburry.
„Ja, das ist Lilli“ rief Rose plötzlich dazwischen. Ich schaute auf und lächelte sie an. Sie band sich ihre Haare zu einem neuen Dutt zusammen und zwinkerte mir zu.
Als die Kutsche hielt streifte sich Jane ihre weißen Handschuhe über und stieg mit mir als Letzte aus der Kutsche.
„So meine Damen“ ertönte sofort Mrs. Bradshaws Stimme. „Ihr könnt in die Läden gehen, in die ihr gehen wollt, aber seid bitte pünktlich um 3 Uhr wieder hier, bei den Kutschen“ Sie zeigte auf den kleinen Platz mit dem Brunnen, an dem die Kutschen standen. „Ich wünschen Ihnen viel Spaß“
Damit schwärmten Julia, Sara, Nicole und Jessi als erste los. Sie wollten ja in den tollen Laden, der ihnen von Mr. Rumble empfohlen wurde.
Wir schauten uns erst einmal um und suchten dann eine Gasse in die wir gehen wollten.

„Meint ihr, es steht mir?“ fragte Elly skeptisch und drehte sich auf dem Hocker vor dem Spiegel. Rose stand hinter ihr und hatte einen Finger auf die Lippen gelegt und schaute nachdenklich zu Elly. Sie trug ein rosafarbenes Kleid mit weißer Spitze am Ausschnitt.
„Ja… obwohl die Farbe nicht wirklich zu deinen Haaren passt“ bemerkte Rose. Jane reichte ihr noch einmal das gelbe Kleid: „Wie wär’s noch Mal mit diesem“
„Es ist schwierig sich zu entscheiden, nicht?“ fragte die ebenfalls etwas pummelige Verkäuferin. Jane setzte sich wieder auf die Couch neben mich: „Willst du nichts anprobieren?“ fragte sie.
„Nicht in diesem Laden“ meinte ich knapp. Dieser Laden hatte nur Ballkleider in typischen Ballfarben. Alle hell und grell, und bunt, wie ein Papagei.
Elly verschwand in die Kabine und Rose hinterher, um ihr das Korsett zuzuschnüren.
Das gelbe Kleid sah toll aus. Obwohl sie immer noch pummelig war, stand es ihr besser, als ihre sonstigen Kleider.
„Ist das nicht toll?“ fragte Rose begeistert und hob die Daumen hoch. Jane musste nickte: „Ja, wirklich sehr schön“
Ich legte den Kopf schief und nahm spontan das schwarze Tuch von meinem Hals und legte es Elly um den Hals: „So… Sieh dich an. Mit diesem Kleid und dem Schal in einem Monat und die Männer werden Schlange stehen“
Elly wurde sofort rot und drehte sich langsam zum Spiegel um.
„Ist Miss in Trauerstimmung?“ fragte die Verkäuferin hinter mir und zeigte auf mein schwarzes Kleid.
Ich lächelte und schüttelte mit dem Kopf: „Nein, ich mag keine hellen Farben“
„Oh, eine Dame der dunklen Seite“
Ich lächelte nur und schaute wieder zu Elly: „Nimmst du das Kleid?“
Wir verließen den Laden und Elly hatte einem großen Korb in der Hand. Mein schwarzes Tuch trug sie immer noch um den Hals: „Oh, ich habe so ein schlechtes Gewissen. Jetzt habe ich die ganze Zeit für mich geschaut und ihr habt noch gar nichts“
„Keine Sorge“ winkte Rose ab. „Das ist vollkommen in Ordnung. Wir schauen jetzt einfach“
Der nächste Kleiderladen war ein einfacher Laden in einer Seitenstraße. Wir öffneten die Tür und die Glocke darüber fing an zu bimmeln. Ein hagerer, alter Mann kam angelaufen: „Oh, welch eine Freude, solch junge Damen“ Er hob den Hut und wir machten alle einen Knicks.
„Was kann ich für Sie tun?“ fragte der Mann.
„Wir suchen neue Kleider“ sagte Jane höflich. „Wir kommen von Bradshaw und brauchen für den Herrenabend neue Roben“
„Außer ich“ warf Elly ein. Sie hob ihren Korb hoch. „Ich habe schon ein Kleid“
Das Lächeln des Mannes schwand trotzdem nicht. „Schauen Sie sich ruhig um“ Er hörte bestimmt schon die Kasse läuten und das Geld klirren.
Fast gleichzeitig kamen wir drei aus den Kabinen. Rose lachte fröhlich, als sie sich in dem weißen Ballkleid sah. Es war mit blauen Bändern verziert. Janes türkises Kleid war
durch den Reifrock sehr ausladend, was ihre Taille nur noch schmaler machte. Sie lächelte zaghaft. Ich hatte mal wieder nach einer dunklen Farbe gegriffen. Das dunkelgraue Kleid war einfach. Er hatte lange Ärmel und einen Ausschnitt, der mit schwarzer Spitze verziert war.
„Ihr seht toll aus“ meinte Elly und erhob sich aus dem Sessel.
„Oh ja, ganz bezaubernd“ stimmte der Mann zu und stellte sich neben Elly.
Ich schaute mich im Spiegel an und kam mir unglaublich klein zwischen Rose und Jane vor. Und neben Jane auch etwas plump. Doch neben Jane sah selbst Sara plump aus.
Ich drehte mich zum Verkäufer um: „Ich nehme es“

Wir waren spät dran und kamen beinahe zu spät, wenn wir nicht gerannt wären.
„Ich weiß schon, was Mrs. Bradshaw sagen wird“ keuchte Jane. „Wenn ich nicht aufpasse ist bald Julia Jahrgangsbeste“
Rose lachte: „Das darf niemals passieren“
Keuchend kamen wir an den Kutschen an. „Meine Damen“ mahnte Mrs. Bradshaw. „Das schickt sich aber nicht für eine Dame. 10 Minuspunkte für Unpünktlichkeit. Jane, für dich nur 5 Minuspunkte, weil ich das nicht von dir erwartet hätte und wegen der Sache… ach du weißt schon, Jane“
Elly und Rose warfen Jane einen fragenden Blick zu, doch sie winkte ab und stieg in die Kutsche ein.
Miss Longburry saß schon am Fenster und las eine Zeitung. Sie schaute kurz auf und nickte dann. Bevor sie weiter las, sagte sie: „Ihr seid spät dran, meine Damen“
„Wir hatten falsch kalkuliert“ sagte ich knapp und setzte mich ihr gegenüber.

„Der Schneider, den mir Julia empfohlen hat war einfach klasse“ schwärmte Jessica und hielt ihr eisblaues Kleid in die Höhe. „Das ziehe ich auf jeden Fall an, wenn die Herren kommen“
Ich saß schon im Nachthemd auf meinem Bett und hatte die Knie angezogen.
Jessica tanzte noch im Nachthemd mit ihrem neuen Kleid durch das kleine Turmzimmer. Rose lachte: „Ja, ein schönes Kleid“
Jessica blieb stehen: „Und teuer war es! Doch ich hatte noch eine Kleinigkeit gespart!“ Sie machte eine Pause. „Und Julia, das Schätzchen hat mir etwas geliehen. Sie ist ja so reich und dann bekommt sie auch jedes Mal von Mr. Rumble Geld“
Plötzlich klopfte es an der Tür. Schnell warf Jessica das Kleid auf ihr Bett und begann es zusammenzufalten.
Rose stand auf und öffnete die Tür. Jane trat herein mit mehreren Briefen in der Hand. „Hier, einer ist für dich, Jessi“
Jessi schaute auf und nahm den Brief an sich. Sie schaute kurz drauf dann lächelte sie: „Der ist von meinen Eltern“
Dann reichte Jane noch einen Brief an Rose. „Für dich ist leider keiner dabei“ sagte sie und schaute entschuldigend zu mir. „Ich muss noch nach unten zu Sara, Nicole und Julia. Gute Nacht“
„Warte!“ rief Jessica, warf sich ihren Morgenmantel um die Schultern und ging mit dem Brief hinter Jane her: „Ich komme mit“
Die Tür machte sie natürlich nicht zu. Rose seufzte und schloss sie mit einem lauten Knall. „Das macht sie immer!“ beschwerte sie sich. Sie öffnete den Brief, stockte aber mitten in ihrer Bewegung und lächelte mich aufmunternd an: „Deine Tante schreibt dir bestimmt auch noch“
Ich stand auf: „Und selbst wenn nicht“ Ich zuckte mit den Achseln. Ich nahm mein Kleid aus meinem Korb und legte es zusammen. „Meine Tante ist froh, dass sie mich los ist und ich bin froh, dass ich sie und ihren scheußlichen Gatten los bin. Es vermisst also niemand niemanden“
Rose wurde ernst und nickte: „Tut mir Leid“ Dann setzte sie sich auf ihr Bett und las den Brief. Dann blickte sie wieder auf: „Ich darf über die Weihnachtsferien nach London, zu meinem Onkel und meinem Cousin. Ich freue mich ja so“ Sie wollte noch weiterplappern, doch als sie meinen Blick sah, verstummte sie: „Es tu mir Leid… Ich meine du…“
Mit einer einfachen Handbewegung brachte ich sie zum Schweigen und schaute danach nur auf den See auf den der Regen niederprasselte.
Meine Gedanken waren schon längst wieder bei dem Tag der Herren und bei der wahren Liebe, von der Jessi immer schwärmte.
Ob es vielleicht doch irgendwo jemanden gab der ins Internat kommen würde uns sich in eine von uns verlieben würde? Bestimmt. Sieht man ja an Mr. Rumble. Aber gibt es auch irgendwo jemanden, den wir lieben?
Jane scheint ja ihr Glück gefunden zu haben. Auch wenn ihn niemand kennt, außer Sara, die anscheinend bis jetzt noch dicht gehalten hat.




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