Dreifacher Herzsalto

Autor: LunaLoo
veröffentlicht am: 04.11.2010


Kapitel 1

„Jetzt beeil dich schon!“ drängte meine Mutter und wieder konnte ich nur genervt die Augen verdrehen. Sie war doch diejenige, die mal wieder zu lange gearbeitet hat. Deswegen saß ich auch noch hier, während Papa mit Maxi schon längst weg war.
„Jenna!“
Ich machte mir nicht die Mühe zu antworten, sondern rannte nur quer durch mein Zimmer und suchte verzweifelt meine braune Lederjacke, während ich versuchte ich meine Sandalen zu schlüpfen – was allerdings kläglich scheiterte, da diese Römersandalen ja so kompliziert zum anziehen sein müssen. Das heißt, kompliziert, wenn man nebenbei noch herumrennt und eine Lederjacke sucht.
„Jenna, ich weiß wir kommen sowieso schon maßlos zu spät, aber könntest du dich bitte beeilen“
Ich war kurz davor zu schreien: Ich komme nicht mit. Ich hab die Schnauze voll. Doch das konnte ich meinem Bruder nicht antun. Auch, wenn er vor seinen Freunden und sonst eigentlich überall immer nur so tat, als wäre ich die ätzende, kleine Schwester, die er nie gewollt hatte. Denn eigentlich mochte der Idiot mich ja… Eigentlich, eben.
„Jenna! Bist du jetzt bald so weit?“ riss mich die Stimme meiner Mutter aus meinen Gedanken.
Wenn ich meine Jacke gefunden habe, ja. Meine Schuhe hatte ich mittlerweile an den Füßen und nicht mehr in den Händen und meine braune Lederhandtasche hing auch schon um meine Schultern. Ich durchwühlte den großen Klamottenhaufen, der sich auf meinem Bett türmte und zog am Ende meine Jacke am Ärmel hervor: „Da bist du ja“ murmelte ich und rannte aus meinem Zimmer.
Meine Mutter stand mit tadelndem Blick am Absatz der Treppe und stemmte – als Ergänzung zu ihrem Blick – auch noch die Hände in die Hüften. „Hast du keinen Mund mehr zu reden, oder was?“ fuhr sie mich an. „Wenn wir Pech haben, verpassen wir alles“
„Wir verpassen gar nichts“ murrte ich und ging an ihr vorbei und zerrte die Haustür auf. Ich drehte mich über die Schulter um und sah in das teils verwunderte, und teils zornige Gesicht meiner Mutter.
„Vielleicht solltest du dir deine Schuhe anziehen, sonst verpassen wir wirklich alles?“ Ich versuchte versöhnlich zu lächeln, doch ich ahnte schon, dass mir das misslingen würde. Ich war einfach nicht glücklich darüber, dauernd gehetzt zu werden, nur um meinen Superbruder beim Turmspringen zuzusehen. Sei es nun die Landesmeisterschaft oder die Europameisterschaft. Immer wurde ein Wirbel darum gemacht. Na klar, ich als Elternteil wäre auch stolz, solch einen sportlichen und ehrgeizigen Sohn zu haben, doch wenn man die kleine Schwester von diesem Wunderknaben war und selbst für Sport nicht wahnsinnig zu begeistern war und nur mehr schlecht als recht Klavier spielen konnte, war es nicht sonderlich angenehm immer so angesprochen zu werden: Jenna Jogevski? Bist du die Schwester von…
Ja, zum Teufel, ja. Ich bin die Schwester von Maximilian Jogevski; Turmspringer, Durchschnitt 1,3, und gar nicht so hässlich.
Manchmal war es mehr Fluch als Segen Maxi als Bruder zu haben. Doch eigentlich mochte ich ihn ja – so wie man eben einen Zwillingsbruder mögen kann – trotzdem war ich der Meinung, dass ich mehr sein wollte als die Schwester von…
„Ja, du hast Recht“ meinte meine Mutter hektisch und kroch schnell in ihre schwarzen Pumps. Dazu trug sie ein passendes schwarzes Kostüm und sah damit eigentlich nicht so aus, als wolle sie zu einem Sportturnier ihres Sohnes.
Sie angelte sich die Autoschlüssel vom Schuhregal und hastete hinter mir aus dem Haus, und stieg auf dem Fahrersitz neben mir ins Auto. Vor lauter Hektik übersah sie das kleine Knöllchen – sie liebte es mehr auf der Straße, als an der Straße zu parken – und ich würde sie sicherlich nicht darauf aufmerksam machen, da sie sonst nur wieder durchdrehen würde.
Irgendwann würde sie es sowieso sehen…
„Ich find’s übrigens schön, dass du immer wieder mitkommst“ sagte meine Mutter plötzlich und riss mich wieder aus meinen Gedanken.
„Heh – ja, klar. Ich hab ja nur einen Bruder“ meinte ich schnell und hoffte, dass damit das Thema beendet sei, doch ich täuschte mich wohl.
„Ich weiß, dass es nicht immer leicht für dich ist; du wirst sicherlich viel mit Max verglichen und wirst oft nur als seine Zwillingsschwester gesehen, und trotzdem hältst du zu ihm. Das finde ich gut“
„Für was hat man denn Familie?“ Verzweifelt begann ich in meiner Tasche nach meinem ipod zu kramen, und musste mit bedauernd feststellen, dass ich ihn vergessen hatte.
„Und mir ist auch klar, dass du am Wochenende eher was mit Freunden unternehmen könntest, als deinem Bruder beim Springen von irgendwelchen Türmen zuzusehen…“
Diesmal unterbrach ich meine Mutter: „Das ist nicht schlimm. Es ist eh’ Sonntag, und Sonntag hängen alle nur rum“ Was nur teilweise stimmte. Aber sonntags war nun mal mein Rumhäng-Tag und die Aktivitäten am Sonntag hatten sowieso immer eher Rentnerniveau… Ich würde also nichts verpassen.
„Ja, ja… ich weiß. Aber was ich eigentlich sagen wollte, war, dass ich es wirklich klasse finde, dass du so eine enge Bindung zu deinem Bruder hast“
Enge Bindung? Na ja, das war wohl etwas übertrieben ausgedrückt. Obwohl sie ja irgendwie Recht hatte… Eine Zwillingsbindung war schwer zu begreifen.
„Ich mag ihn auch sehr…“ Ich lächelte matt, doch dann wurde ich schlagartig ernst: „Es wird trotzdem Zeit, dass er auszieht, Mam“
Meiner Mutter blieb eine Zeitlang der Mund offen stehen, doch dann lachte sie: „Hängt er seine nassen Unterhosen immer noch in euerm gemeinsamen Bad auf?“
Ich verzog das Gesicht an den Gedanken, den ich die letzten vier Jahre erfolgreich – seit ich dreizehn bin – verdrängt haben. „Das ist nur ein kleiner Punkt“ bemerkte ich und starrte aus dem Fenster: „Du hast übrigens ein Knöllchen“ sagte ich beiläufig und machte sie damit doch auf den Strafzettel aufmerksam, da sie es selber nicht zu bemerken schien.
„Was?! Schon wieder?!“
„Man parkt ja auch am Straßenrand und nicht auf der linken Straßenspur“ fügte ich langsam hinzu und meinte Mutter schaute mich schon wieder böse an: „Schön den Ball flach halten, mein Fräulein. Lerne du erst mal selber Autofahren“
Ich seufzte tief. Während Maxi schon mit seinem Führerschein begonnen hatte, hatte ich immer noch Schiss und traute mich nicht so Recht.
Mit quietschenden Reifen hielt meine Mutter auf dem Frauenparkplatz der Schwimmhalle und stieg sofort aus, sodass ich kaum Zeit hatte ihr hinterher zu hasten. Bei meinem tollpatschigen Glück würde ich bestimmt noch irgendwie fallen oder so.
Wie meine Mutter in ihren Schuhen mit mörderischen Absätzen nur rennen konnte?

Als wir die Schwimmhalle betraten, sahen meine Mutter und ich nur noch wie Maxis Füße im Wasser verschwanden und wie er wenige Sekunden später am Beckenrand auftauchte und kritisch dreinblickte. Doch das hatte bei Maxi wenig zu bedeuten. Er schaute immer so. Nur leider wussten das die wenigsten Leute.
Und leider – oder zum Glück - wussten auch die wenigstens Leute, dass er mein Zwillingsbruder war: Maxi und ich sahen uns nur minimal ähnlich. Während er blonde Haare, blaugraue Augen, eine gerade, kleine Nase und schmale Lippen hatte, hatte ich wilde braune Locken, dieselben Augen mit einem minimalen Grünstich, eine Stupsnase und etwas vollere Lippen. Nur wenn man uns beiden in die Augen sah, wusste man, dass wir verwandt sein mussten…
Meine Mutter ließ sich seufzend neben meinen Vater fallen und schaute traurig zum Schwimmbecken: „Wir haben ihn verpasst?“ Es war eine Mischung aus Frage und Feststellung, die meine Mutter nur zu gern verwendete.
„Sieht wohl so aus“ murmelte mein Vater, während sein Blick durch die Brillengläser wie gebannt auf das Sprungbrett gerichtet war. Der Name des nächsten Jungen wurde aufgerufen: Karl Soundso – ich hörte der Stimme nicht wirklich zu, wusste aber, dass dieser Karl ein Freund von Maxi war.
„Schade. Ich hätte ihn gerne gesehen“ murmelte meine Mutter. „War er denn gut?“
„Ziemlich, würde ich sagen. Aber ich habe da nichts zu entscheiden“ antwortete mein Vater ohne seinen Blick von Karl (dass der Junge Karl heißt, tut mir schon Leid) zu wenden. „Wirklich schade, dass ihr ihn nicht gesehen habt“
Ich verdrehte die Augen und schnaubte: „Maxi wird’s überleben“
Von meinen Eltern kassierte ich auf den Spruch nur böse Blicke, aber keine Antwort. Wenn die beiden bei einem Turmspringenturnier waren, dann gab es für sie nur das Turmspringen.
Ich fand das ganze immer eher langweilig – mal von den Körpern der Turmspringer abgesehen, die Muskeln an Stellen besaßen, bei denen andere männliche Wesen noch nicht mal von träumen konnten – aber ich würde die paar Stunden schon überleben.
„…Romeo Ranaz…“
Bei dem Namen schaute ich auf. Auch diesen Namen hatte ich am Abendbrottisch von Maxi schon mehrmals gehört. Seit Maxi mit Turmspringen angefangen hatte, redete er im Beisein der Familie von nichts anderem mehr, deswegen kannte ich jeden Turmspringernamen, doch der Name Romeo Ranaz ließ mich jedes Mal aufhorchen. Der Junge konnte sich glücklich schätzen einen solch schönen Namen zu haben und nicht mit Nachnamen Jogevski zu heißen. Und mein Vorname war auch nicht der Beste. Ich meine, wer heißt schon Jenna?!
Oder, nein, ich will es so ausdrücken: Wer heißt schon gerne Jenna Jogevski?! Ich empfand meinen Namen jedenfalls als Fluch.
Romeo Ranaz war nur ungefähr zwei Sekunden auf dem Sprungbrett, als er auch schon in der Luft flog, einen doppelten Salto hinlegte, danach eine perfekte Schraube zeigte, um dann am Ende mit einem sauberen Kopfsprung ins Wasser eintauchte.
„Hat Maxi gegen den eine Chance?“ fragte ich und zog die Brauen hoch.
Meine Mutter sah mich tadelnd an: „Du musst immer schön an deinen Bruder glauben“
Ich stöhnte innerlich genervt auf, setzte aber ein Lächeln auf und drehte mich zu meiner Mutter um, während ich die Daumen in die Höhe streckte: „Maxi ist der Beste“ Und ich hoffte wirklich, dass er der Beste sein würde (einfach deshalb weil er mein Bruder war und weil Max ein schrecklich schlechter Verlierer war) doch Romeo Ranaz war auch gut, genau wie Karl Soundso und Sascha Soundso.

„Mach dir nichts draus, Maxi“ Ich schlang meine Arme um den immer noch nassen Körper meines Bruders und lächelte ihn aufrichtig an.
„Ach, Jenna. Du hast doch keine Ahnung“ murrte er, dennoch erwiderte er mein Lächeln. „Jetzt bin ich schon einen Kader höher gestiegen und belege einen der undankbarsten Plätze. Eigentlich hätte ich mich heute beweisen sollen – doch ich hab’s vermasselt“
„Sei nicht so streng zu dir“ Auch unsere Eltern hatten es endlich geschafft ihre Plätze auf der Zuschauertribüne zu verlassen. Papa hielt immer noch die Videokamera in der Hand und ich wettete mit mir selber, dass sie immer noch lief und alles aufnahm. Wir hatten hunderte von diesen kleinen Videokassetten zu Hause, dessen Inhalt sich nie jemand anschaute, weil es einfach nur reihenweise sinnloser Schrott war.
„Paps – sieht das hier etwa aus, wie ein Tag, den Maxi niemals vergessen will?“ fragte ich vorwurfsvoll und lächelte meinen Bruder erneut aufmunternd an.
„Thorsten, jetzt mach schon das Ding aus“ tadelte ihn auch meine Mutter und wuschelte meinem Bruder durch die Haare.
Ich ließ von ihm los und begutachtete skeptisch mein nasses T-Shirt. Doch ich wusste ja, worauf ich mich einlasse, wenn ich ihn so umarme.
„Machst du dich fertig?“ fragte meine Mutter und schien es eilig zu haben nach Hause zu kommen, womit sie nicht die Einzige war. Auch ich legte nicht mehr besonders viel Wert darauf noch länger in der überhitzten Schwimmhalle herumzuhängen.
„Ich geh schon mal raus“ meinte ich, drückte kurz Maxis Schulter und eilte dann durch die Tür nach draußen, wo mich ein frischer Herbstwind empfing und ich schnell in meine braune Lederjacke schlüpfte.
Ich schien ziemlich lange auf Max und meine Eltern zu warten, denn vor ihnen verließen schon Romeo, Sascha, Karl und irgendein anderes Gesicht, das mir bekannt vorkam, dessen Name mir aber einfach nicht einfallen wollte, die Schwimmhalle.
Karl nickte mir kurz zu, da er oft bei uns zu Hause war und wahrscheinlich ein guter Freund meines Bruders. Er ging abends oft mit Maxi weg, feiern und trinken, und einmal hat er sogar auf meine Jacke gekotzt, welche er danach natürlich selbstverständlich behalten durfte. Ich hob leicht die Hand um zu winken und lächelte. Doch mehr tat ich nicht. Außer Karl kannte ich die Jungs kaum.
So war das schon immer bei Maxi und mir gewesen: Er hatte seine Freunde, ich meine. Jeder führte sein eigenes Leben mit seiner eigenen Clique.
Nur dumm, dass ich sogar bei meinen eigenen Freunden oftmals nur Jenna-die-Schwester-von-Maxi war. Eigentlich sollte ich Maxi hassen, doch ich tat es nicht.
„Das nächste Mal gewinnst du“ riss mich die Stimme meines Vaters aus meinen Gedanken.
„Ja, sicher. Ich muss nur härter trainieren“ war Maxis verbissene Antwort und ich wusste schon, dass er jetzt statt viermal die Woche, bestimmt sechsmal die Woche in die Schwimmhalle rennen würde.
„Ihr habt lang gebraucht“ meinte ich nur und folgte ihnen zum Auto. Doch keiner schien mich zu beachten; Maxi war zu sehr mit seiner Niederlage (er belegte ja auch nur den 4. Platz) beschäftigt, mein Vater sah seine Aufgabe darin meinen Bruder mit allen Mitteln aufzuheitern, und meine Mutter betrachtete immer noch genau ihr Knöllchen und murmelte immer wieder: „Das kann doch gar nicht wahr sein“.
Tja, das ist meine Familie…

Fortsetzung folgt ;)





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