Weg zu dir

Autor: kathi(2)
veröffentlicht am: 01.10.2010


Langsam ging ich den kleinen Weg entlang. Ich war schon lange nicht mehr hier. Mein Herz hämmert und der Kloß in einem Hals wird bei jedem Schritt größer. Ich hoffe, dass du mir verzeihst. Verzeihst, dass ich seitdem letzten Sommer nicht mehr da war. Seitdem Sonnenuntergang am Baggersee. „Ich liebe dich!“, hast du gesagt, dann bist du weg gerannt. Die Angst war zu groß, dass ich es nicht sagen würde. Das wusste ich. Hätte ich es denn gesagt? Ich glaube nicht. Vielleicht weil ich feige bin. Vielleicht, weil ich angst hatte. Angst dich zu verlieren. Als Freund, als meinen Seelentröster, wenn ich wieder einmal am Ende war.

Noch ein Schritt. Der Weg ist so schön. Man hat ihn erst vor kurzem mit ein wenig Sand und Kies bestreut. Die Bäume waren schon fast kahl. Der Wind bläst mir ins Gesicht. Drückt mich weg. Weg von dir. Weg vor den Gefühlen, die ich all die Zeit verschlossen habe.

Warum du? Wieso nicht ich?

Wenn es doch einen Gott gibt, wieso tut er das dann?

Engel, ich bin gleich da. Doch ich habe dich im Stich gelassen. Alleine. Ich habe die Tränen am See nicht gesehen. Die stummen Schreie, die du sooft auf den Weg zu mir geschickt hast.

Ein älterer Mann kommt mir entgegen. Das Gesicht unter einem Hut versteckt, denn er mit seiner Hand, die in Lederhandschuhen steckt, fest hält. Der graue Schal ist bis zur Nase hochgezogen. Der Kragen vom Mantel hoch gezogen. Er grüßt mit einem Nicken und ich bin wieder alleine. Alleine auf dem Weg zu dir.

Ich erinner mich genau wie wir uns kennen gelernt haben.

Die Kneipe und du. Du der mir wie ausversehen die Cola über das Oberteil gekippt hattest. Als Tollpatsch hatte ich dich betitelt. Und doch hast du mich magisch angezogen.

Wir waren wie Geschwister. Das Traumpaar der Clique und doch hatten wir nie über ein Wort wie Liebe gesprochen.

Du wolltest dich nicht binden. „Das Leben ist zu kurz, als das man sich an sich an eine Person halten sollte“, hattest du mal gesagt. Und doch bist du immer bei mir geblieben.

Du hast mich gehasst, wenn ich dich Engel nannte, doch warst du das für mich. Der Engel der Hoffnung. Hoffnung für ein uns – vielleicht. Ich weiß es nicht.

Liebling, wieso wir?

Was haben wir getan, dass wir nie uns lieben konnten. Dass wir nie glücklich werden sollten.

Ich umklammere die Rosen in meiner Hand. Die Dornen drücken sich in meine Haut.

Doch den Schmerz spüre ich schon lange nicht mehr.

Es ist so kalt. Wieso bist du nicht hier? Ich möchte dich in meinen Arm nehmen. Deinen Kopf an meiner Schulter spüren und sehen wie du dich fest an mich drückst.

Ich hoffe, dass dir die Blumen gefallen werden. Blaue Rosen. Dein erstes Geschenk an mich. Damals, ja damals habe ich im Krankenhaus gelegen. Blinddarm.

Du warst jeden Tag da. Hast dich immer um mich gekümmert und wolltest mir eine Freude machen. Du wolltest keine roten Rosen kaufen, du wusstest genau, dass ich sie nicht mag.

„Lach mal – das Leben nimmt dich schon hart genug ran!“, waren deine Worte, als ich das erste Mal durch meine Fahrprüfung gefallen bin. Also mich meine Freundin verlassen hatte, hattest du dich ins Auto gesetzt und bist zu ihr gefahren, nur um ihr zu sagen, was für eine Schlampe sie ist. Ich erinnere mich genau. Dein Auge war blau und deine Lippe aufgeplatzt, weil dich ihr neuer Freund geschlagen hatte.

Ich war so wütend und doch war es so süß von dir. Dann der erste Kuss. Ganz leicht. Vielleicht wegen deiner Lippe. Vielleicht auch, weil der Moment so wunderschön war.

Wir. Mein Engel und ich. Du und das hässliche Entlein.

Du kanntest mich erst 3 Monate und doch hattest du dich in allem mir völlig hingegeben. Du warst immer stark. Hattest mich mit dir spielen lassen, wie ein Spielzeug. Mein Verlangen war immer so riesig, doch hatte ich dir nie Gefühle gezeigt. Ich begehrte dich und du wusstest es. Ich hätte dir die Welt zu fühlen gelegt, doch hattest du mich dafür nur ausgelacht. Tu es bei einer, die du liebst, hattest du gesagt.

Ich der Puppenspieler und du die Marionette, die sich nicht brechen ließ. Ich wollte dich nicht brechen. Nur für mich alleine. Du spieltest mit jedem. Alles war Mittel zum Zweck. Doch bist du immer wieder zu mir zurück gekehrt.

Und doch habe ich genau das geliebt. Ich wollte es so.

Seh mich an. Ich bin hier – auf dem Weg zu dir. Und doch weiß ich, es wird nie so wie früher.

Der Weg führt über ein freies Feld auf dem der Gärtner ein Rosenmeer züchtet. Tausende Rosensträucher in vielen Farben und Größen. Und ich musste seit Monaten das erste Mal wieder lächeln. „Wie hübsch du bist, wenn du lächelst“, dass hattest du mir nur einmal gesagt. Vielleicht weil ich nicht viel lächelte. Vielleicht weil du niemand bist, der große Worte über sowas verlor. Damals hattest du mir ein Strauß lauter schwarzer und blauer Rosen gebracht. Du hattest dir Stunden um die Ohren gehauen um einen Laden zu finden, der dir zumindest schwarz und blau bestäubte Rosen anbieten konnten. Erinnerst du dich daran noch? Du hast mir danach noch Wochen vorgehalten, dass mein Geschmack schlimm sei und eher die Blumen das nächste Mal selbst anmalst als noch mal welche kaufen zu wollen. Und doch hattest du dich gefreut wie ein kleines Kind, als ich lächelte.

Der Sand schluckt meine Schritte fast völlig. Die Sonne scheint mir in den Rücken.

Ein kalter Schauer läuft mir trotz der Wärme herunter. Warum du? Warum nicht ich? Wieso so schnell? Warum hat es mir keiner gesagt, schon viel früher? Ich bleibe stehen und schau auf ein Meer voller Kränze. Im stillen Gedenken Familie Müller und Freunde steht auf einem Band das um einen Kranz voller Sonnenblumen ist.

Die erste Träne rollt über meine Wange. Nur mühsam schaffe ich es den Gang weiter zu laufen. Am Ende wartest du auf mich – das weiß ich.

Jeder Schritt ist, als wenn ich auf tausenden Nadeln laufen müsste. Tausende Glasscheiben, die mein Leben uns in den Weg warf.

Ich weiß es noch. Du auch? Vor zwei Jahren hatte ich den Brief gefunden. Da ich aufgeräumt habe und endlich mal dein Arbeitszimmer ausgemistet habe. Der Brief war offen. Ohne ein Umschlag. Da ich die letzte Seite zu erst in der Hand hatte, hatte ich aus Neugierde gelesen. Ja ich weiß, das Briefgeheimnis. Aber hättest du es mir jemals gesagt?

Eigentlich war es ja kein richtiger Brief. Es war ein Befund. Ein Befund, dass unser Leben zu Ende war. „Das geht dich nichts an!“, hast du gemeint, als ich dir den Zettel mit der Diagnose Tumor vor die Füße geknallt hatte. Gehst du mich wirklich nichts an? War ich in deinem Leben so egal?

Jeder Schritt wurde tonnenschwer. So als wären meine Beine in Beton gegossen worden.

Natürlich hatten wir uns gestritten. Du warst einfach abgehauen und kamst erst zwei Tage betrunken wieder. Ich hatte dir die Hölle heiß gemacht. Du warst zwei Tage verschwunden gewesen ohne ein Wort, ohne einmal ans Handy zu gehen und nun hattest du mir das saubere Paket vollgekotzt.

Ein Warum hast du mir nie beantwortet. Ich hatte mir Vorwürfe gemacht. Du warst so anders, so fremd.

Du brachst dein Studium ab. Und hast dich immer mehr verkrochen. Jeden Abend den ich nach Hause kam hatte ich Angst. Angst, dass du wieder weg warst, dich mit irgendwelchen Leuten getroffen hattest die ich nicht kannte. Unsere Freunde kanntest du nicht mehr. Sie existierten nicht mehr. Mir gingst du aus dem Weg. Gingst alleine aus und kamst sturzbetrunken wieder. Es war alles so anders. Ich durfte zu einem Arztbesuch mit. Irgendwann bin ich dir nach. Du warst nur zwei Mal beim Arzt, danach nie wieder. Sie gaben dir noch ein paar Wochen.

So viel hatte ich raus bekommen – hinterher.

Ich hätte jeden Arzt von überall her eingeflogen nur damit du mich nicht verlässt – doch du hast mich nur ausgelacht. Behalt dein Scheißgeld, waren deine Worte. Danach bist du nicht mehr weg gegangen. Dein Körper baute von Tag zu Tag mehr ab. Oft riefst du mich an. Deine Stimme war nur ein Flüstern. „Komm nach Hause!“, du hattest mich angefleht. Doch ich war so gekränkt. Ich dachte, wir hätten noch so viel Zeit. Sie würden dich operieren hattest du gesagt. Alles würde schon gut werden. Doch nichts war gut nie wieder.

Engel, sag mir doch wieso? Hattest du Angst? Angst, dass ich mit kommen wollte? Dass ich dich nicht mehr alleine lassen wollte?

Ich bin nicht gekommen. Kein einziges Mal als du mich von zu Hause aus gerufen hast. Im unseren letzten Sommer sind wir dann zum See gefahren. Es war der schlimmste Urlaub für mich. Jeder deiner Schritte war zittrig. Du konntest manchmal kaum noch alleine aufstehen. Deine Haare waren dünner geworden und du hattest sie nur noch unter Ballonmützen. Niemand sollte sehen wie krank du warst.

Du sperrtest mich aus. Raus aus unserem Leben. Raus aus deiner Welt.

Liebling, warum hast du es mir nicht gesagt? Ich hätte alles für dich getan. Doch ich übersah deine stummen Hilferufe völlig. Deine Tränen die du jedes Mal vergossen hast hinter meinem Rücken. Warum war ich nur so blind, Engel?

Du warst so jung. So schön. So unglaublich.

Der Abend am See hatte alles geändert. Er riss uns entzwei. Du standest schon seit Stunden im Regen, als ich von einkaufen zurück kam.

Ich wollte dir helfen. Dich ins Haus holen. Dich wärmen und dich beknien. Ich wusste schon lange, dass du keine OP haben wirst. Doch verdrängte ich es zu lange. Ich wollte dich anflehen zum Arzt zu gehen, doch war schon alles viel zu spät.

Du standest mit dem Rücken zu mir. „Hasse mich!“, ich hatte nicht verstanden. „Hasse mich, weil ich dich liebe!“, deine Worte klangen so weit weg. Ich wollte dich in den Arm nehmen. Wissen wieso. Ich verstand es nicht. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Doch bevor ich dich erreichen konnte, ranntest du. Ranntest über den Steg einfach weg. Du liefst aus meinem Leben. Unseren Leben. Ich kann dich nicht hassen. Ich will dich nicht hassen!

Ich habe dich gesucht stundenlang. Als ich zurück kam war eine Brücke gesperrt worden. Man hatte dich gefunden – auf dem Asphalt. Du hattest einfach los gelassen. Warst einfach über das Geländer geklettert und hast los gelassen.

Die Ärzte sagten, du warst schon bevor dein Körper auf den nassen Asphalt schlug tot. Doch was brachte mir die Erkenntnis? Dass du keine Schmerzen hattest als dein Kopf auf den harten Boden schlug? Dass dein Herz schon vorher stehen blieb?

Noch drei Schritte, dann bin ich bei dir.

Noch wenige Meter und ich könnte es sehen. Der Stein war klein. Deine Eltern hatten ihn ausgesucht. Ich konnte nicht. Wollte nicht. Wollte das Endgültige vor mir her schieben. Ein kleines Buch mit deinem Namen lang auf dem rechteckigen Bodenstück, was mit kleinen Bäumchen abgegrenzt war. Eine Rose verzierte das Steinbuch und ragte über deinen Namen hinweg.

Überall lagen Rosen. Man denkt immer noch an dich mein Engel. Niemand wird dich je vergessen.

Ein paar Winterblumen wurden schon gepflanzt. Tanne ausgelegt. Bald würde der erste Frost kommen. Vielleicht schneite es ja. Du liebst den Schnee doch so sehr.

Ich stehe vor deinem Grab. Sehe immer wieder dein Gesicht. Dein Lächeln. Eine letzte Träne rollt über meine Wange und versiegt in meinem Schall. Meine Finger fühlen sich kalt an, als ich den Strauß auf den Stein lege. Direkt neben deinen Namen.

Mein Herz zieht sich zusammen. Will verenden. Nicht mehr leben. Nicht mehr schlagen ohne dich. Bald ist es vorbei. Meine Finger umschließen das kühle Metall in meiner Jackentasche. Niemand außer uns scheint mehr hier zu sein. Ich ziehe das Stückchen Metall was mich zu dir bringen wird langsam aus der Tasche. Es macht leise „Klick“ als ich es entsichere. Ich bin völlig ruhig als ich es langsam zu meiner Stirn führe. Ich will nicht gerettet werden. Nicht noch einmal von dir weg gerissen werden, mein Liebling.

„Ich liebe dich, mein Schatz!“

Der laute Knall schreckt die Tauben in den kahlen Ästen auf. Sie fliegen mit lauten Flügelschlagen davon.

Vor meinen Augen tauchen zwei nackte Füße auf. Der junge Körper ist nur mit einem weißen knielangen Hemd bedeckt. Du gehst in die Hocke und nimmst meine Hand. Dein Lächeln tröstet mich, denn ich weiß ich bin jetzt bei dir und niemand kann uns je mehr trennen.







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