Mein Engel... - Teil 20

Autor: Demre
veröffentlicht am: 30.09.2011


Die nächsten paar Tage waren Eisig kalt. Nicht nur von der Stimmung her sondern auch das Wetter war alles andere als aufmunternd. Eine dicke Schneeschicht hatte die Straßen zugedeckt. Die Autos kamen nur zügig voran, und die Leute die Hunde besaßen hatten grimmige Mienen aufgesetzt und schauten den Tieren dabei zu, wie sie ihr Geschäft in den Büschen verrichteten. Die Innenstadt war in Weihnachtsvorbereitungen. Überall hingen bunte Lichterketten, Nikoläuse standen vor den Eingangstüren und gaben ein lautes „Hohoho“ von sich, während die kleinen Kinder aufgeregt die Schaufenster betrachteten.
Das Philadelphia Krankenhaus lag direkt im Zentrum der Stadt, und deswegen hatte man einen Überblick über das Geschehnis, und natürlich waren auch schlechte Sachen dabei. Wie zum Beispiel der Obdachlose, der mit zerrissen Klamotten vor der Bushaltestelle stand und die Leute um Geld anflehte. Niemand kümmerte sich um ihn, alle liefen einfach vorbei und hielten ihre Einkaufstüten fest in der Hand. Dann gab es Jugendliche die Raufereien veranstalteten, sich gegenseitig beleidigten und einen auf „Cool“ taten.
Ich saß auf der niedrigen Holzbank, mein Fuß in einem dicken Verband, den man mir gestern verbunden hatte, fuhr ich mir durch die glatt gekämmten schwarzen Haare und sog den kalten Wind ein. Mein Körper in einer Warmen Jacke und meine Hände in Wollhandschuhen, saß ich hier schon seit einer Stunde und betrachtete die Gegend. Mein Herz war genauso wie das Wetter, kalt. Ich fühlte mich leer und vor allem erschöpft, ich war Müde von alldem. Ich wusste immer noch nicht genau, was wirklich an dem Tag passiert war, wusste nur noch wie schlecht es mir ging… wie verzweifelt ich war. Und jetzt tat mir nicht nur mein Herz sondern mein ganzer Körper weh. Ich vermisste ihn, vermisste ihn so stark. Und doch hatte er weder angerufen, noch war er noch ein Mal aufgetaucht. Und das alles wegen meinem Vater…
Ich wusste nicht was der Grund für das gemeine Verhalten meines Vaters war, konnte es einfach nicht verstehen. Aber eins wusste ich, und zwar das nichts mehr so sein würde wie vorher. Ich hatte kein Wort mehr mit ihm gewechselt, war enttäuscht, genauso wie von meinem Bruder. Aber beide erklärten mir nichts, ließen mich in diesem armseligen zustand.
Und jetzt war ich wieder alleine und starrte die glücklichen Menschen auf den Straßen an.
Gestern hatte ich meine erste Therapie hinter mir gehabt, auch wenn ich es nicht wollte. Aber der Arzt hatte keine Widerrede gewollt, ich musste es tun. Aber viel hatte es nicht gebracht…
Ich hatte kein Wort gesagt, nur aus dem Fenster gestarrt und war in einer Traumwelt. In einer Welt die mich glücklich machte, die gar nichts mit meinem Leben jetzt zu tun hatten. Dort war ich ein frohes, und glückliches Mädchen. Glücklich mit Cian…
Die Therapeutin hatte die ganze Zeit versucht auf mich einzureden, aber als sie gemerkt hat, dass das nichts brachte hat sie angefangen von meiner Mutter zu reden. Sie hatte mich die ganze Zeit gefragt, warum meine Mutter tot war. Und ich hatte geschrien. „Hören Sie auf! Hören Sie auf von ihr zu reden!“ Ich hatte mir die Seele aus dem Leib geschrien, war auf den Boden zusammen gesunken und hatte wie ein kleines Kind geweint. Wenn mich das furchtbare Gefühl aus der Therapie Stunde wieder erfasste, zitterte mein Körper und ich wünschte mir auf der Stellt Ohnmächtig zu werden. Es tat so weh… Und die ganzen Tränen die ich vergossen hatte, waren umsonst gewesen. Ich wollte wieder schreien, wollte alles kurz und klein schlagen, aber das einzige wozu ich fähig war, war stumm auf der Bank zu sitzen und meinem Atem zu zusehen, wie es in der Luft zu Nebel wurde und sich dann auflöste.
Eine alte Frau mit Gehstock humpelte an mir vorbei, lächelte mich kurz an und setzte sich dann auf den Platz neben mir. Sie hatte blaue Flecken auf ihren Armen und ein paar kleine Narben auf ihrem Gesicht. Sie schaute ein paar Sekunden in den Himmel, bevor sie sich zu mir wandte und ganz kurz meine Pflaster im Gesicht studierte.
„Du armes Kind.“, sagte sie mit rauer, aber freundlicher Stimme und strich mir über die Schultern. Ich versuchte ein Lächeln rüberzubringen, jedoch gelang mir nicht mal das heben der Mundwinkel.
„Warum schaust du so traurig, mein Kind. Du bist noch zu jung um mit so einer solchen Traurigkeit durch die Welt zu gehen.“
Wenn sie wüssten, dachte ich mürrisch und blickte sie mit schief gelegtem Kopf an. „Sie haben recht.“, erwiderte ich und erkannte meine Stimme kaum wieder. Zu rau klang sie in meinen Ohren. Die alte Dame hatte recht, aber schließlich war die Welt nicht einfach, das Leben war nicht einfach. Es war leicht zu fragen warum man traurig war…aber es war schwer zu erklären. Wie sollte man erklären, dass man das Leben satt hatte? Wie sollte man die Traurigkeit, die Hoffnungslosigkeit in Worte fassen? Wie sollte ich verdammt noch Mal erklären, dass der einzige Junge, den ich liebte mich von vorne bis hinten nur verarschte? Wahrscheinlich würde die Frau das gar nicht verstehen. Ich war jung, dumm und unerfahren. Was wusste ich schon von Treue, von Liebe?
„Das Leben ist nun mal kein Zuckerschlecken meine Süße, aber wenn du nicht darum kämpfst, wenn du dich geschlagen gibst, dann hast du keine Chance. Denn sobald du die Hoffnung aufgibst, erlicht der letzte Funken Vertrauen.“ Eine bittere Antwort lag mir auf der Zunge, aber ich wollte der Frau nicht den Respekt verweisen. Ich nickte nur und starrte wieder zu den Menschen auf den Straßen. Vielleicht war nie Hoffnung da gewesen, dachte ich. Vielleicht bestand von Anfang an keine Chance für diese Liebe, für ein glückliches Leben.
Die alte Frau blickte auch auf die andere Straßenseite, und verzog das Gesicht als der Obdachlose eine Zigarette aus der Tasche zog und die Leute drum herum um Feuer bat. Wieso kauften sie sich nichts Sinnvolles und zerstörten ihr Leben mit diesen blöden Drogen! Warum konnten die Menschen nicht einfach richtig Handeln! Wie ich es hasste. Hasste alles was die Menschen so abhängig und kaputt machte.
„Es wird immer kälter mein Kind, vielleicht solltest du rein gehen.“, sagte die Frau und lächelte mich besorgt an. Ich nickte nur und stand langsam auf. Sie hatte recht es wurde noch kälter, und ich hatte keine Lust mir eine Erkältung einzufangen. Die Krücke fest unter meinen Armen geklemmt hinkte ich zurück ins Gebäude und fuhr mit dem Fahrstuhl in den 3. Stock.
Mein Papa und mein Bruder befanden sich nicht in meinem Krankenzimmer, wahrscheinlich waren sie unten in der Cafeteria. Bevor ich mich ins Bett legte, warf ich einen kurzen Blick auf die Uhr die 20.35 anzeigte und kuschelte mich dann in die Decke. Es war anstrengend, den ganzen Tag mit den Krücken herumzulaufen und jetzt fühlte sich mein Körper nur noch schlapp und Müde an. Ich betrachtete das kleine, weiße und leere Zimmer und wünschte mir endlich nach Hause zu gehen. Ich hasste Krankenhäuser, hasste den Geruch die Wände…
Und jetzt war ich in einem gelandet und konnte nichts dagegen tun. Es kam mir so vor als würden die Wände immer weiter auf mich zurücken. Sie nahmen mir den Platz weg, die Luft….Es war ein erdrückendes Gefühl, aber das einzige was ich machen konnte war die Augen schließen und langsam Ein- und Auszuatmen. Doch sobald ich die Augen schloss, sah ich das Gesicht einer jungen, hübschen und schwarzhaarigen Frau, die auf einer Brücke stand. Es war wieder Nachts, der Wind toste und die Bäume raschelten.
Ich unterdrückte diese Bilder, unterdrückte das Gefühl, das nicht ich hier lag, sondern meine Mutter, die genau in diesem Krankenhaus gestorben war. Die Frau mit den Himmelblauen Augen, die nicht nur mein Leben, sondern auch das meines Vaters zerstört hatte. Sie hatte uns alle mit dieser selbstlosen tat, im Stich gelassen, und diese Wut auf sie würde nie vergehen, dass wusste ich.
Schritte waren vor der Zimmertür zu hören, und dann drückte jemand die Klinke herunter und trat ein. Ich ließ die Augen geschlossen, schon in Vermutung wer das sein könnte, und lauschte.
„Sie schläft.“, hörte ich meinen Papa links von mir flüstern. Ich blieb still und versuchte regelmäßig zu atmen, doch als ich die Stimme meines Bruders hörte, stockte mir der Atem kurz und ich versuchte wieder auf die normale Atmung zurück zu kommen.
„Alles wegen diesem Wixxer von Ci…“ Heiße Wut brannte in mir auf, aber mein Vater unterbrach Ethan. Ich hörte einen tiefen Seufzer und dann sich entfernende Schritte. „Nicht hier Ethan.“, sagte mein Vater im strengen Tonfall.
Wieder Schritte. Und dann hörte ich die Tür zuschlagen und schlug sofort die Augen auf. Ethan war so ein Idiot! In letzter Zeit widerte er mich regelrecht an, und dann sein Verhalten Cian gegenüber brachte alles zum Überlaufen. Niemand hatte das Recht so mit ihm zu reden! Sie kannten Cian doch gar nicht, wussten nicht was für ein tolles Herz er eigentlich hatte. Er hatte Fehler gemacht, ja. Aber das machte doch jeder Mensch! Warum mussten sie denn meinen Cian so ungerecht Beurteilen.
Langsam rappelte ich mich vom Bett auf, griff nach den Krücken und nährte mich ein paar Schritte der Tür. Laut und deutlich drang die Stimme meines Bruders in mein Ohr.
„Vater er ist ein krimineller Bastard! Er verarscht Sie nur und ist auf Geld hinaus. Er hat mit den schlimmsten Leuten überhaupt zutun und…“ Mein Herz sank ein Stockwerk tiefer und Tränen traten mir in die Augen. >Er verarscht sie nur…< Ein kleiner Stich fuhr mir durchs Herz aber trotzdem hörte ich weiter zu. Mein Vater war ungeduldig und wütend, dass bemerkte ich an seinem Tonfall sofort.
„Ich habe es verstanden Ethan. Und ich kenne diesen Cian zwar nicht, aber dafür seine Onkel. Und das ist alles andere als gut. Ich weiß nicht was das Beste wäre. Ohne sie zu verletzen, weißt du? Ich kann sie schließlich nicht zu Hause einsperren damit sie ihn nicht mehr trifft.“ Der nächste Satz von meinem Papa brachte mich aus dem Gleichgewicht und ich wäre beinah gestürzt, doch konnte mich noch an der Wand links von mir abstützen.
„Die beste Ideen wäre Umziehen.“, fügte mein Vater in einem nachdenklichen Tonfall hinzu und ich hörte eilige Schritte vor der Tür. Blind vor Schmerz und Wut torkelte ich zurück ans Bett und fiel mit einem Satz auf die Kante. Das konnte doch nicht deren ernst sein! Wie konnte mein Vater auch nur Ansatzweise daran denken von hier weg zu gehen. Von meinem zu Hause, von meinen Freunden! Dazu hatte er kein recht! Und vor allem könnte ich Cian nie im Leben verlassen, das würde mir endgültig das ganze Leben nehmen. Den letzen Hoffnungsschimmer…
Ein Gedanke setzte sich in meinen Kopf und ich wusste sofort, dass es die einzige richtige Möglichkeit war. Es gab einfach nichts anderes das mir jetzt helfen konnte.
Ein wenig wankend stand ich auf und hinkte zum Schrank, wo ich nach meiner Jacke griff und sie überstreifte. Dann nahm ich mein Handy und mein Portmonee bevor ich langsam zu Tür ging und lauschte. Keine Geräusche außer Fußschritte. Ganz vorsichtig öffnete ich die Tür und spähte hindurch. Ärzte und Krankenschwestern in weißen Kitteln eilten den Gang entlang und die meisten schoben Wagen mit Medikamenten vor sich hin. In einer halben Stunde würde das Abendessen kommen, ich musste mich beeilen.
Anscheinend waren mein Vater und mein Bruder wieder weg, aber so hatte ich genügend Zeit mich zum Aufzug zu schleppen. Das war so anstrengend.
Im Aufzug erblickte ich mein eigenes Spiegelbild. Ich sah meinen leeren, trostlosen Blick. Meine verweinten und roten Augen. Mein Müdes Gesicht. Ich sah wirklich krank aus, und so fühlte ich mich auch. Mir ging es schlimm, schlimm genug um mich eigentlich gleich auf irgendeine Straße zu werfen. Aber noch nicht, dachte ich bitter.
Ich hinkte aus dem Gebäude, schaute auf die Uhr meines Handys und entfernte mich dann mit einem letzten Blick zum Krankenhaus. Dann blieb ich an der Straßenkante stehen. Meine Gedanken waren weit weg, ich war so teilnahmslos sodass ich die zwei Taxis nicht bemerkte die an mir vorbei fuhren. Aber bei dem dritten reagierte ich endlich und winkte heftig dem Beifahrer zu. Das Taxi hielt genau vor meinen Füßen an und ich stieg ein, legte meine Krücken zur Seite und begegnete dem Blick des Fahrers im Spiegel.
„Zur Federal Street, bitte.“ Der Fahrer nickte und wendete zurück. Während dem fahren betrachtete ich die Gegend, die wunderschönen- viktorianischen Häuser, den See mit dem Tintenfarbenen Wasser und die Pärchen die Hand in Hand durch die Straßen liefen. Alles nahm ich mit Genauigkeit wahr und eine so tiefe Enttäuschung bereitete sich ihm mir aus, so stark das ich am liebsten sofort losgeweint hätte. Nur mit Mühe hielt ich die sich anbahnenden Tränen zurück und vergrub mein Gesicht in den Händen. Gott, wie viel konnte ein Mensch eigentlich ertragen?
Plötzlich erfasste mich ein tiefer Schmerz im Bein und ich stöhnte leise auf. Mein Bein jagte mir höllische Stiche durch den Körper und als ich meine Knöchel Gegend betastete, erfasste meine Hand eine dunkele Flüssigkeit. Ich hob die Hand und bemerkte beim näher betrachten das Blut. Mir wurde beinah schlecht. Gott, meine Wunde war wieder aufgeplatzt, was für ein Scheiß! Wütend drückte ich auf die Wunde und jagte mir damit nur noch mehr Schmerzen ins Bein.
„Wir sind da.“ Die Stimme des Fahrers holte mich aus meiner Benommenheit und ich richtete mich auf. Auf dem Dollarzähler zeigte die Summe 5,50 $ an und ich überreichte dem Mann das Geld. Ich stieg vorsichtig aus, natürlich konnte ich ein fluchen nicht unterdrücken, und bevor ich auch nur einen Schritt vom Taxi entfernt war, düste dieser auch los. Ich drehte mich um, und vor mir bereitete sich unser riesen Anwesen aus. Ich betrachtete das weiße, 2. Stockige Haus, sog den Anblick der Terrasse mit den Plastik Orchideen auf, die nur spärlich von der Straßenlaterne draußen beleuchtet wurden. Mein Papa stellte dort immer Plastikblumen auf, weil die richtigen im Winter nie überlebten, und ohne Blumen fühlte sich mein Vater einfach nicht wohl. Er hatte auch andere Plastik Pflanzen in Töpfen stehen, damit der Anblick schöner wirkte. Vor allem morgens, wenn der Tag anbrach und die Erde mit Licht durchflutete, sah der Vorgarten einfach wunderschön aus. Früher hatte meine Mutter immer Blumen gepflanzt und sie mit Sorgfalt aufgezogen. Jetzt konnte sich niemand mehr darum kümmern. Ich seufzte tief, nahm den Anblick genussvoll auf und merkte jetzt wie sehr ich dieses Haus liebte. Umziehen kam also gar nicht in Frage. Ich blickte zum Hauseingang, und plötzliche machte ich einen Schatten auf der Veranda aus. Und bei dem Anblick der Person stockte mir der Atem.
Ein Tropfen Regen landete auf meinem Arm, und lenkte mich kurz ab. Wann hatte es denn zu Regnen angefangen?
Der Schnee unter meinen Füßen war fest, sodass nicht wirklich was an meinem Stiefel und an meiner Socke hängen blieb.
Ich richtete meinen Blick auf den Jungen, der mich jetzt erblickt hatte, und ignorierte die einzelnen Tröpfchen Regen.
Dann stand er vor mir, mit einer dicken Jacke, einem traurigen Ausdruck in den Augen und verwuschelten Haare. Schweigend sahen wir uns an. Minuten verstrichen, bis er die Hand hob und mir über die Wange streicheln wollte. Ich schlug seine Hand weg.
Mein Fuß pochte, ich hatte schreckliche Schmerzen und meine Hände wurden langsam durch das halten der Krücken taub. Aber ich ignorierte es. Jetzt gab es nichts außer Cian, nichts außer seinen waren Augen und seinen vollen, zu einem Strich gepressten Lippen.
„Ava…“ Er verstummte als ich den Kopf schüttelte.
„Nein Cian.“, flüsterte ich, konnte nicht lauter werden weil mein Hals brannte, meine Stimme sich rau anfühlte und ich unausstehliche Schmerzen hatte. „Wieso hast du das getan?“ Er schaute zur Seite, dann blickte er mir wieder in die Augen und dieses Mal erlaubte ich es ihm, mir eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen.
„Es tut mir leid.“, erwiderte er, aber nicht kräftig genug. Es hörte sich zu falsch an.
„Was Cian? Was tut dir leid? Das du mich verletzt hast? Das du mich angelogen hast?” Cian verzog gequält das Gesicht, aber ich konnte es nicht ändern. Die Worte flossen regelrecht aus meinem Mund. Jetzt stand ich hier und wollte eine Erklärung. Sonst würde ich wirklich alles hinter mit lassen.
„Es tut mir alles so schrecklich leid.“, flüsterte er erneut und fasste mit seinen Händen um mein Gesicht und streichelte mit seinen Daumen meine Wangen. In dem Moment fing es plötzlich an wie aus Eimern zu schütten. Aber keiner von uns bewegte sich auch nur einen Millimeter. Der Schnee unter unseren Füßen wurde zu Matsch, unsere Kleidung wurde durchnässt, und wir froren. Aber keiner achtete darauf.
Es gab nur uns. Wie wir uns in die Augen schauten, meine Hände fest auf den Krücken um nicht zu Wackelpudding zu werden, als seine braunen Augen meine fixierten. Aber dann tauchten Gedanken Fetzten in meinem Kopf auf. Sein Gespräch mit dem Jungen. Seine Lügen. Aiden. Das Mädchen in der Schule. Und ich konnte die Tränen nicht mehr zurück halten.
Zu viel Gefühl hatte sich in mich gestaut, zu viel Schmerz lag in meinem Körper, in meinem Herzen. Und jetzt stand der Junge der dafür verantwortlich war, vor mir und blickte mich liebevoll an.
„Du hast mich so verletzt.“, brachte ich schniefend hervor uns dankte dem Regen, weil er meine Tränen nicht sehen konnte. Er konnte nicht sehen wie viel Schmerz in ihnen lag.
„Ich weiß.“, entgegnete er nur leise und strich mir über die Augenlieder.
„Du bist so ein Arschloch.“, schluchzte ich und schloss die Augen als er mir mit dem Daumen über die Lippen strich.
„Ich weiß.“
„Ich hasse dich.“, log ich und bei dem Satz landete eine Tropfen -ich wusste nicht ob es meine Träne oder der Regentropfen war- auf seinem Finger.
„Ich weiß.“, flüsterte er und gab mir einen langen Kuss auf die Stirn. Ich drohte fast mit den Krücken umzukippen, aber schaffte es ihn am Kragen seiner Jacke festzuhalten. Dann schubste ich ihn wütend weg.
„Man, kannst du auch was anderes außer: Ich weiß?“, schimpfte ich und funkelte ihn hilflos an. Er seufzte und fasste mir vorsichtig um die Hüften.
„Ich…“, wollte er wieder sagen aber mein wütendes zischen unterbrach ihn. „Es tut mir leid.“ Er zog mich so nah an sich, sodass kein Krümel mehr zwischen uns gepasst hätte. Aber mein Bein tat höllisch weh, und mehr als 2 Minuten würde ich nicht mehr aushalten. „Was tut dir leid, Cian?“, erwiderte ich und versuchte ihn wegzuschubsen. Aber er ließ nicht los. „Sag mir was dir leid tut! Das du mich angelogen hast? Das du mich von vorne bis hinten nur verarscht hast? Sag es mir verdammt noch mal!“
Ich hatte ihn verletzt, das merkte ich an seinem gekränkten Blick, und schließlich ließ er mich auch los und trat einen Schritt zurück, sodass ich mein Gleichgewicht mit den Krücken wieder finden konnte.
Aber rot vor Zorn, und zu müde um geduldig zu bleiben schrie ich ihn weiter an.
„Was tut dir leid, sag schon! Das du dich mit deinem Freund darüber lustig gemacht hast, dass ich so naiv wäre?“ Seine Augen wurden riesig als er das hörte. Er hatte wirklich nicht gewusst, dass ich es gehört hatte. Pech für ihn.
„Ich fass es nicht. Die Disco.“, murmelte er und fuhr sich mit einer abgehackten Bewegung durch die Haare. Der Regen hatte immer noch nicht abgenommen und wir beide tropften wie zwei nasse Pudel, aber wirklich, es war mir egal.
„Was fasst du nicht? Das ich es gehört habe? Das dein Spiel, jetzt hier vorbei ist?“
„Ava…“, flehte er und kam mehrere Schritte auf mich zu, aber ich hielt die Krücke vor uns. Auch wenn mein Fuß heute viel zu viel mitgemacht hatte, konnte ich das jetzt nicht beenden. Solange er mir keine Erklärung abgab.
„Vergiss es Cian. Ich habe keine Lust mehr auf die Lügerein. Weißt du Cian, du hast mich oft belogen, doch ich hab dir geglaubt. Immer wieder bin ich drauf reingefallen. Aber jetzt spiel dein Spiel mit jemand anderem, denn ich hab kein Bock mehr drauf.“ Er schien regelrecht bestürzt zu sein, aber es tat nicht so weh wie die ganzen anderen Wunden in meinem Herzen. Ich hatte schon viel ertragen, Cians Worte, seine Enttäuschungen. Aber am meisten tat mir seine verletze Art weh, aber er war es selber der dies tat. Indem er mich verletzte, tat er auch sich selber weh.
„Ava, ich kann es dir erklären.“, bat er und versuchte nach meiner Hand zu greifen, aber ich zog sie weg.
„Was willst du erklären? Das mit der Schlampe auf dem Schulhof?“, schrie ich gegen den tosenden Regen und verschluckte einige Tropfen Wasser.
„Da gibt es nichts zu erklären.“, sagte er nur und nahm auch diesen letzen Schimmer Hoffnung. Ich drehte mich um, wischte die Tränen aus dem Gesicht und fasste allen Mut zusammen. Das war es dann wohl. Jetzt gab es nichts mehr, was von Bedeutung war. „Verpiss dich Cian.“, sagte ich laut und deutlich und drehte mich wieder zu ihm um. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und blickte mich unendlich erschöpft an. Es sah bei dem dämmrigen Licht der Laterne so aus, als hätte Cian tagelang nicht geschlafen. Er sah viel zu erschöpft aus. Ich wusste nicht wie wir bis hierher gelangen konnten, konnte nicht fassen wie wir in dieser Situation landen konnten. Aber eins wusste ich. Ich hatte es satt. Dieses ganze Spiel war mir zu anstrengend. Das Leben machte mich Müde. Also klemmte ich mir die Krücken fester unter den Arm und hinkte zur Veranda, stieg langsam die Treppen hinauf und blieb links neben der Hollywood Schaukel stehen.
„Wohin?“, rief Cian hinter mir. Ich drehte mich um. Er hatte die Hände jetzt hinter dem Kopf verschränkt und blickte mich aus der Entfernung flehend an. „Bitte lass uns reden.“, schrie er, aber ich schüttelte nur den Kopf. Es gab nichts mehr zu reden. Ich holte den Schlüssel hinter dem Backstein hervor, in dem er immer versteckt lag und schloss die Tür auf. Mein Papa und mein Bruder waren bestimmt schon krank vor Sorge, dachte ich grimmig und zuckte dann nur die Achseln. Selbst Schuld. Plötzlich hörte ich Polizeisirenen, atmete aber erleichtert aus, als sie sich entfernten. Gerade wollte eintreten als Cian noch etwas schrie. Mein Herz rutschte mir in die Hose.
„Ich bleibe hier Ava. Auch wenn ich hier draußen erfriere, auch wenn es Tage dauert, ich werde warten und darauf hoffen, dass du mir endlich zuhörst. „Bitte Ava…“ Seine Stimme verstummte als ich die Haustür laut zu knallte. Meine ganzen Sachen hingen an mir wie ein Sack Kartoffeln, meine Krücken waren Schlammverkrustet, an meiner Hose hatte sich ein riesen Blutfleck gebildet, und erst jetzt nah mich den Schmerz wirklich war. Und es tat so weh, das ich vor Wut nur heulte und auf dem Boden zusammen sank. Was war das für eine verkorkste Welt! Warum musste ich das alles ertragen, was hatte ich schlimme getan? Warum hatte ich das alles verdient? Weinend und mit den Fäusten auf den Boden trommelnd saß ich vor der Tür und beschmutze den ganzen Fußboden.

Es war kurz nach Mitternacht, als ich den Flur entlang hinkte, ohne Krücken aber mit einem Hilfestock. Vor einer Stunde hatte ich geduscht, mich ins Bett gelegt und geweint. Dann war mein Vater gekommen, hatte auch geweint und dann hatte er die Tür leise zu gezogen und war verschwunden. Er hatte mich nicht aufgeweckt, hatte nicht schreiend eine Erklärung verlangt.
Und jetzt ging ich die Treppen runter, ernsthaft glaubend Cian könnte wirklich noch da unten sein. Der Idiot war bestimmt schon vor Stunden abgehauen. Aber mein Herz erlangte natürlich wieder mal die Oberhand.
Ich öffnete die Tür, ein eisiger Wind klatschte mir ins Gesicht, und ich erstarrte als ich wirklich jemand auf der Hollywood Schaukel liegen sah. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und vorsichtig nährte ich mich der Person.
Cian war dort sitzend eingeschlafen. Es überraschte mich nicht wirklich, dass mein Vater ihn nicht gesehen hatte, entweder war er so außer sich, dass er nichts beachtet hatte, oder Cian hatte sich versteckt. Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf, doch nur eines war jetzt wichtig. So schnell ich konnte holte ich eine dicke Decke aus dem Vorratsschrank im Wohnzimmer, deckte ihn zu und setzte mich, ohne die Schaukel zu bewegen neben ihn. Dann betrachtete ich seine wunderschönen Gesichtszüge. Seine Glatte, breite Stirn. Die geschlossenen Augen mit den langen Wimpern. Die breite Nase, die einfach perfekt zu seinem Gesicht passte. Die vollen Lippen, die ich jetzt am liebsten geküsst hätte. Und eine so tiefe Liebe überflutete mich, das ich wieder weinte. Weinte darüber, was hier passierte, und warum man das mit uns tat. Warum Cian das tat. Nach all dem was er gemacht hatte, da müsst ich ihm doch etwas bedeuten, oder?
Schluchzend streichelte ich ihm über die Wange und legte ganz leicht meinen Arm um ihn, und das eisige Wetter beachtete ich nicht. Ich hörte seinem Atem zu, wie es langsam durch seine leicht geöffneten Lippen strömte und strich ihm durch die nassen und kalten Haare. Und dann, als ich kurz die Augenlieder schloss, war ich schon längst in der Welt der Träume.






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