Vergessen

Autor: nuhla
veröffentlicht am: 14.04.2010


Es war dunkel. Sie ging durch den Wald. Um sie herum flüsterten die Blätter im Wind.
Sie konnte nichts sehen, deshalb tastete sie sich vorwärts.
Etwas streifte ihren Rücken, ihrem Mund entwich ein Schrei.
Sie lief weiter, nein, sie rannte.
Um sie herum war es feucht. Neben sich sah sie einen Schatten durchs Gebüsch huschen.
Das war zu viel.
Sie schrie und schrie und ihre Schreie hallten durch den dunklen Wald. Sie rannte immer schneller, wusste nicht wohin, stolperte, fiel hin, stand wieder auf und rannte weiter.
Sie rannte und rannte, auch innerlich. In ihr rannten die Gedanken.
Dann rannte sie gegen einen Baum und ihr wurde schwarz vor Augen.




Sie wachte auf. Es war dunkel, aber nicht so dunkel wie in ihrem Traum. Traum? War es wirklich ein Traum gewesen, oder war es Wirklichkeit?
Sie versuchte sich zu erinnern, was vor dem Traum gewesen war, doch davon bekam sie Kopfschmerzen. Stöhnend blickte sie sich um. Aber sie konnte in der dämmrigen Dunkelheit nichts erkennen, und schaute nach oben. Von dort schien ein schwaches Licht auf sie herab. Vielleicht befand sie sich in einer Schlucht?
Plötzlich hörte sie ein Geräusch von hinten und drehte sich um. Ihre Augen hatten sich langsam an das Dämmerlicht gewöhnt und sie konnte schemenhaft erkennen, dass etwas hinter ihr lag. Sie krabbelte auf das etwas zu, um es besser erkennen zu können.
Das etwas bewegte sich. Ein Tier? Nein, es war ein Mensch!
Ihre Stimme klang heiser.
„Hey... Kannst du mich hören?“
Da sie keine Antwort bekam, rüttelte sie den Menschen an der Schulter. Dabei fiel ihr auf, dass es ein Junge war.
„Hallo! Aufwachen!“
Ihr ging durch den Kopf, dass der Junge sie ja vielleicht nicht verstehen konnte. Schließlich wusste sie ja nicht, wo sie war.
Also versuchte sie es mit Englisch.
„Hey! Do you hear me?“
„Was?“, flüsterte der Junge schwach.
„Kannst du deutsch?“
„Ja“, stöhnte der Junge.
„Wie heißt du? Bist du verletzt?“
„Ich bin Karim. Ich glaube schon...“
„Versuch doch mal aufzustehen!“
Mit ihrer Hilfe schaffte es Karim auf die Beine, sackte doch gleich wieder ein.
„Au! Mein Bein!“
„Alles ok?
„Nein! Ich glaub, ich hab mir das Bein gebrochen! Verdammte scheiße!“
„Naja, fluchen kannst du ja“, murmelte sie in sich hinein.
„Das hab ich gehört!“
„Was sollen wir denn jetzt machen? Wie kommst du überhaupt hier hin?“, fragte sie ratlos.
„Wenn du mir ein bisschen Holz holst, kann ich mir eine Schiene machen.“
Also ging sie los, und ließ ihn hinter sich zurück.

Wenig später kam sie mit ein paar Stöcken zurück.
„Hier.“
„Danke. Wie heißt du?“
„Oh.“
Darüber hatte sie sich noch gar keine Gedanken gemacht.
„Weiß ich nicht“, antwortete sie ihm wahrheitsgemäß. Er schaute sie mit einem Gesichtsausdruck an, den sie nicht deuten konnte.
„Reiß mir mal bitte ein paar Streifen vom T-Shirt ab.“
Sie tat, was er wollte und er machte sich ein Schiene ans Bein.
Als er fertig war, versuchte er aufzustehen.
„Komm, wir müssen hier weg!“
„Ja, aber... dein Bein!“
„Das ist jetzt nicht wichtig, wir müssen aus der Schlucht raus, denn es müsste bald anfangen zu regnen, und dann entsteht hier ein reißender Bach, und dann...“
„Ja, schon gut, ich hab’s verstanden!“
Sie half ihm auf die Beine und stützte ihn, soweit es ging. Er war groß und ziemlich schwer, sie im Gegensatz war eher klein und zierlich.
Sie kamen nur langsam und keuchend vorwärts, da sie ständig eine Pause machen mussten.
Nach gefühlten drei Stunden kamen sie ans Ende der Schlucht. Durch eine Öffnung traten sie ins Freie. Um sie herum ragten Berge in den Himmel, vor ihnen lag jedoch ein Tal, in welchem sie ein Dorf entdeckte.
Karim stöhnte und ließ sich auf dem Boden nieder.
„Ah... Endlich!“
Sie setzte sich neben ihn.
„Wo sind wir hier?“, fragte sie.
„In den Anden, also in Chile.“
Sie sog erschrocken die Luft ein.
„Wie bin ich denn hier hin gekommen?“
„Das weiß ich nicht. Ist dir denn inzwischen eingefallen, wie du heißt?“
„Hm, nein. Wie bist du denn in die Schlucht gekommen?“
Er verzog schmerzhaft das Gesicht.
„Reingefallen.“
„Man fällt doch nicht einfach in eine Schlucht?“
„Der Rest geht dich nichts an!“, antwortete er so barsch, dass sie nicht weiter nachfragen wollte. Daher wechselte sie das Thema.
„Dein Bein muss versorgt werden!“
„Ja, ich weiß!“
„Wo sollen wir denn jetzt hin? Ich kenn mich hier nicht aus, ich weiß ja noch nicht mal, wer ich bin!“
„Ich schlage vor, wir gehen zu dem Dorf da unten und suchen einen Arzt oder so auf.“
„Und wie sollen wir dahin kommen?“
„Wie wär’s mit laufen?“
Wütend und neidisch wegen der Gelassenheit, mit dem er das ganze nahm, antwortete sie barsch:
„Und wie willst du das schaffen? Du kannst doch noch nicht mal stehen! Aber ich kann dich ja den Berg runterrollen!“
„Ich kann schon selber gehen.“ Ihm machte es nichts aus, dass sie wütend war, doch deshalb wurde sie nur noch wütender.
Sie stand auf, drehte sich um, und lief ohne ein Wort in Richtung Dorf.
„Hey, warte mal!“
Sie tat, als würde sie ihn nicht hören und ging weiter.
„Wie-auch-immer-du-heißt, komm wieder her und hilf mir, aufzustehen!“, schrie er hinter ihr her.
Sie drehte sich um.
„Ach, ich dachte du kannst selber gehen?“, keifte sie ihn an.
„Nein, das hab ich doch nur gesagt, weil du mich den Berg runterrollen wolltest! Reg dich mal ab!“
Sie kam auf ihn zu und bemühte sich um einen gelassenen Gesichtsausdruck, auch wenn sie innerlich kochte. Dann streckte sie ihm eine Hand entgegen und half ihm auf.
Er lächelte sie an. „Danke.“
Sie sagte nichts, stützte ihn aber beim Laufen. Plötzlich fing es an zu regnen, und der Weg wurde so glitschig, dass sie ausrutschten. Karim schrie auf. Beide waren nun vollkommen dreckig. Sie liefen jetzt langsamer und vorsichtiger, um nicht noch einmal hinzufallen. Während sie gingen, sprachen sie kein Wort miteinander.
Als sie endlich im Dorf ankamen, hörte es auf zu regnen. Da niemand auf der Straße war, klopften sie an einem der Häuser. Eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm öffnete ihnen die Tür.
„Hola“, sagte sie.
„Hola, señora, ¿puede ayudarnos? Buscamos un médico“, fragte Karim in schnellem Spanisch.
„No hay un médico aquí. ¿Porqué necesitáis un médico?“
Sie verstand zwar nicht, was die Frau antwortete, konnte es sich aber denken, da Karim auf sein Bein zeigte, das schon angeschwollen war.
„¡Vaya, qué pena!“
Die Frau bedeutete ihnen einzutreten. Sie führte sie in die Küche und sagte ihnen, dass sie Ana hieße.
„¿Y cómo os llamáis?“
„Me llamo Karim y mi amiga se llama... Maya“ antwortete Karim.
„Hast du grade gesagt, dass ich Maya heiße?“, flüsterte sie empört.
„Ja, warum nicht? Ist doch ein schöner Name?“
„Du bist voll unverschämt! Hättest du mich nicht wenigstens fragen können?“
„Nein, wieso sollte ich? Es ist doch eh nicht dein richtiger Name.“
Damit war für ihn das Thema abgeschlossen. Die neugetaufte Maya blickte ihn nur böse an. Ana gab ihnen erst einmal zu essen und ging dann aus dem Haus, um ihre Mutter zu holen, die wohl so etwas wie die Dorfheilerin war.
Schweigend aßen sie, bis Ana wiederkam. Hinter ihr trat eine kleine Frau durch die Tür, die sofort zu Karim ging. Ana bedeutete Maya aufzustehen und führte sie an der Hand aus der Küche in einen anderen Raum, wo ein Becken mit Wasser stand. Ana zeigte mit der Hand auf Mayas schmutzige Kleidung und dann auf das Becken. Dann ließ sie sie allein.
Maya wusch sich so gut sie konnte und wenig später kam Ana auch wieder herein, um ihr frische Kleidung zu geben. Sie nahm die Hose und das T-shirt entgegen und bedankte sich.
„Gracias.“
„De nada.“
Nachdem Maya sich angezogen hatte, folgte sie Ana in die Küche. Dort erwartete sie schon ein grinsender Karim. Die ältere Frau war grade dabei, ihm eine Salbe aufs Bein zu schmieren.
„Warum grinst du so? Tut es nicht mehr weh?“, fragte Maya ihn.
„Das schon, aber María meint, es wäre nicht gebrochen, und ich müsste nur so eine Woche stillliegen.“
Nun lächelte sie auch.
„Und was machen wir dann?“
„Keine Ahnung...“
„Ich will wissen, wer ich bin!“
„Vielleicht solltest du nach Deutschland gehen? Schließlich sprichst du deutsch...“
„Ja, das wäre wohl das beste. Aber wie denn?“
„Hm, du müsstest zu irgendeinem Flughafen, wenn ich wieder laufen kann, begleite ich dich!“
„Mal sehen. Erstmal müssen wir warten, bis du wieder gesund bist!“
Während ihrem Gespräch hatte die alte María einen Verband und eine Schiene um sein Bein gelegt. Karim bedankte sich bei ihr für ihre Hilfe und fragte Ana, ob sie ersteinmal in ihrem Haus bleiben konnten. Ana bejahte und bot ihnen an, schlafen zu gehen, da sie bestimmt müde waren, es war ja schließlich schon spät.
Erst dann bemerkte Maya wie müde und erschöpft sie war. Sie legte sich auf die Matratze, die Ana ihr gegeben hatte, während Karim sich wusch. Trotz ihrer Müdigkeit konnte sie nicht schlafen. Irgendwann kam auch Karim und legte sich auf die andere Matratze.
„Schläfst du schon?“, fragte er leise. Sie setzte sich auf.
„Nein, ich kann nicht schlafen.“
Er grinste.
„Du bist ja schon wieder am Grinsen!“
„Ich kann auch nicht schlafen.“
Sie lächelte.
„Warum kannst du eigentlich so gut spanisch?“
„Weil ich Chilene bin, eigentlich.“
„Und warum kannst du dann deutsch?“, fragte sie etwas verwirrt.
„Meine Mutter hat einen Deutschen kennengelernt als ich sieben Jahre alt war, und hat sich dann von meinem Vater getrennt, um nach Deutschland zu gehen. Da bin ich dann ganz normal zu Schule gegangen.“
„Ach so... Und warum bist du denn jetzt hier?“
„Ich wollte mal mein Heimatland sehen, weil ich mich fast an nichts mehr erinnern konnte. Außerdem will ich meinen Vater sehen, an ihn kann ich mich auch nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass er Raúl Zapato Muñez heißt...“
„Karim ist aber nicht grade ein typisch südamerikanischer Name!“
„Ich weiß auch nicht, warum meine Mutter mich so genannt hat. Wahrscheinlich sollte ich nicht so wie die anderen heißen.“
„Wie alt bist du eigentlich?“
„19. Und du?“
Sie grinste. „Weiß ich nicht.“
„Achja, ich hatte vergessen, dass du dich ja an gar nichts mehr erinnern kannst.“
Sie musste gähnen. „Hm...“
„Wir sollten jetzt lieber schlafen, morgen werden wir bestimmt früh geweckt. María hat mir erzählt, dass sie sehr viele Enkel hat.“
Maya legte sich hin und war auch schon sofort eingeschlafen. Karim grinste in die Dunkelheit hinein, vonwegen, sie könnte nicht schlafen!

Am nächsten Morgen wurde Maya von lauten Kinderstimmen wach. Sie schaute zu Karim und sah, dass er noch schlief. Also legte sie sich wieder hin, und zog sich die Decke bis unter das Kinn und dachte darüber nach, was sie geträumt hatte. Im Traum saß sie vor Anas Haus und hatte ein Kind auf dem Schoß. Wahrscheinlich war es eins von Ana. Sie hatte Murmeln auf die Erde geworfen und das Kind hatte ihr interessiert dabei zu gesehen. Dann kam Karim humpelnd auf sie zu und gab beiden einen Kuss auf die Wange. Und dann war sie aufgewacht.
Ihr Traum war so reell gewesen.
„Schon wach?“
Erschrocken drehte sie sich um. Karim saß auf seiner Matratze, sie hatte gar nicht bemerkt, dass er aufgewacht war.
Er grinste.
„Na, gut geschlafen?“
Sie musste bei seinem Anblick auch grinsen. Seine Haare waren ganz wirr verwuschelt und er sah verschlafen aus.
„Ja.“
Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, sah sich Maya ihn genauer an. Er hatte dunkelbraune, fast schwarze Haare und wunderschöne schwarz, grüne Augen. Er sah wirklich gut aus, seine Augen waren so tief, dass man sich in ihnen verlieren könnte.
Erst als er sich räusperte, fiel ihr auf, dass sie sich wohl in ihnen verloren hatte und ihn die ganze Zeit anstarrte. Sie wurde rot und sah weg. Er lachte nur und stand auf.






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