Sommer

Autor: Julia
veröffentlicht am: 12.04.2010


Ich habe nie groß darüber nachgedacht, wie unrealistisch die Liebe eigentlich ist. Zwar fand man schon vor langer Zeit heraus, dass es für jeden von uns nicht nur Einen auf dieser Welt gibt und dennoch ist es im Grunde ziemlich unwahrscheinlich, dass sich zwei Menschen finden. Vielleicht habe ich mich mit dem Thema auch nicht so viel beschäftigt, weil ich zum ersten Mal mit echten Gefühlen konfrontiert wurde, als ich mit IHM zum ersten Mal redete.
Ich muss dazu sagen, dass ich ein riesiger Film-Fanatiker bin. Ich liebe es, Filme zu analysieren, merke mir Namen und Gesichter von Schauspielern sehr schnell. Und ich liebe gute Filme. Mit Schnulzen, in denen der erstbeste Mann, der der weiblichen Hauptperson begegnet sofort PERFEKT ist, kann ich nichts anfangen. Kein Mensch, schon gar kein Mann ist so vollkommen, wie sie in romantischen Filmen, die so oft ein Happy End haben, dargestellt werden. Doch ER ist tatsächlich so. Er ist perfekt – aus meiner Sicht jedenfalls. Kennengerlernt haben wir uns durch die Liebe zum Rettungssport, das heißt DLRG und DRK. Seine Augen und seine unwahrscheinlich liebe Art waren mir schon vorher aufgefallen, aber die Gefühle kamen erst mit den ersten Gesprächen. Vielleicht war es Schicksal – wenn es so etwas denn gibt – dass wir beide als Trainer für eine 15 – Kopf große Kindergruppe eingeteilt wurden. Als wir mit den ersten Schwimmübungen anfingen, fielen mir nach und nach immer mehr positive Dinge an ihm auf. Wie schon vorher erwähnt, seine liebe Art, besonders zu Kindern. Er hatte keine Probleme damit, ein weinendes Kind auf den Arm zu nehmen, es zu trösten und es zu ermutigen, weiter zu schwimmen. Während ich schnell die Geduld verliere, war er bei jeder Trainingsstunde gut drauf. Er kam so ausgeglichen und entspannt rüber, dass sich das schnell auf mich abfärbte. Ich freute mich jede Woche mehr darauf ihn zu sehen und begriff erst viele Wochen später, dass die Sehnsucht, die ich nach jedem Training empfand, Liebe war.
Mittlerweile war es Sommer und ich vertrieb mir die Zeit ohne ihn durch einen Job als Wachhelfer in einem Freibad – das auch er dort als Sanitätsassistent arbeitete, wusste ich vorher jedoch nicht. Durch den gemeinsamen Job kam es zu häufigeren Gesprächen. Aus nüchternem Smalltalk wurden lange Gespräche über gemeinsame Interessen, Familie, Schule und sogar ansatzweise über Gefühle. Ich genoss die Zeit, bei ihm zu sein so sehr, dass es jedes Mal schmerzte, als ich ging. Viele Male fuhr er mich nach dem Training, bei dem wir nun auch gemeinsam unsere Bahnen im Wasser zogen, nach Hause und jedes Mal nahm ich mir vor, ihm von meinen immer stärker werdenden Gefühlen zu ihm zu erzählen. Doch Selbstzweifel und der Altersunterschied von über vier Jahren hielten mich davon ab. Ich wusste, dass er schon öfters eine Freundin gehabt hatte und dass er daher auch schon einiges an Erfahrungen gesammelt hatte. Für mich hingegen war das alles vollkommen neu. Ungeküsst und zur ewigen Jungfrau verdammt, so wie es mir schien, behielt ich meine Gefühle für mich. Ich hatte einfach Angst davor, als unerfahren und zu jung abgestempelt zu werden. Dazu kam, dass er das Wort „Beziehung“ sicherlich anders definierte als ich.
Jetzt, wo das ganze schon fast ein Jahr her ist, bereue ich, nicht zu meinen Gefühlen gestanden zu haben. Er wohnt und studiert inzwischen in einem anderen Bundesland und uns trennt eine dreistündige Autofahrt. Die Tage, an denen er zum Training kam wurden immer seltener. Ich schrieb ein paar Mal mit ihm, doch ständig war er beschäftigt und sagte mir, dass die lange Autofahrt und der Prüfungsstress ihn davon abhielten, mal für ein Wochenende zu kommen. Letztendlich kam er dann gar nicht mehr. Der Kontakt zwischen uns beschränkte sich auf das Chatten, was ein persönliches Treffen im „Reallife“ nicht ersetzen konnte. Die Veränderung, die ich während diesem „kalten Entzug“ durchlebte, fiel nicht nur meinen Eltern und Geschwistern auf. Auch meine Freunde fragten mich immer wieder, ob ich Probleme hätte und warum ich so geistesabwesend wirkte. Um nicht weiterhin nervenden Fragen über mein Liebesleben ausgesetzt zu sein, erzählte ich ihnen die Kurzfassung meiner Geschichte, behielt jedoch Erinnerungen, die mir wichtig waren, für mich. Ich wollte nicht, dass jeder davon erfuhr, dass der Sommer der schönste meines Lebens gewesen war. Die Erinnerungen an Nachmittage in der Sonne oder einen warmen Morgen im Wasser gehörten mir allein. Das hört sich so zwar wunderbar romantisch an, aber im Grunde passierte nichts. Wir lachten viel und machten jede Menge Unsinn. Bei einer Wasserschlacht im Freibad, bei der wir vielmehr die anderen Badegäste nass machten als alles andere, umklammerte er mich aus Spaß und sagte etwas wie „Jetzt hab ich dich.“. Die Sehnsucht in diesem Moment, meine Hand an seine Wange zu legen, war so unerträglich, dass ich mich aus seinen Armen wand und einige Schritte Abstand zwischen uns brachte. Da er mich verwirrt und beinahe belustigt ansah, tat ich so, als nähme ich lediglich das Spiel wieder auf. Für ihn war das alles nur Spaß. Ich glaube, er merkte nichts von den Gefühlen die in mir wüteten und wenn er doch etwas merkte, dann ließ er sich nichts anmerken. Einmal nahm er sogar meine Hand, ließ sie jedoch schnell wieder los, als er meinem erschrockenen Blick begegnete.
Ich weiß, was ihr denkt. Es gab so viele Anzeichen dafür, dass er meine Gefühle wohlmöglich doch erwiderte. Doch es kam mir lächerlich vor, dass ein so wundervoller Mensch wie er jemanden wie mich lieben könnte. Mangelndes Selbstbewusstsein? Eigentlich nicht. Doch in seiner Nähe war ich sowieso komplett anders, sodass ich mich kaum an gewöhnlichen Maßstäben orientieren kann.
An Weihnachten sah ich ihn einmal kurz auf einem Konzert, bei dem sowohl ich als auch sein kleiner Bruder spielte, doch er kam mir völlig fremd vor. Weder suchte er meinen Blick noch ein Gespräch mit mir. Er wirkte distanziert und kalt. Verunsichert und traurig wie ich war traute ich mich nicht ihn anzusprechen.
Auch das ist nun schon wieder eine Weile her. Wenn man jemanden drei Monate lang weder sieht noch irgendetwas von ihm hört, verschwinden sogar die stärksten Gefühle nach und nach. Immer wieder musste ich daran denken, wie er mich angesehen hatte, als er merkte, dass ich ihn mal wieder viel zu lange ansah: eine Mischung aus Verwirrung und Belustigung. Ich dachte seine warmen Augen und klammerte mich an meine Erinnerungen. Ich wollte ihn nicht vergessen. Ich merkte, wie ich mich wieder anderen Dingen zuwandte, wie die Gedanken an ihn weniger wurden und wehrte mich dagegen. Zwanghaft dachte ich an ihn, sah mir Bilder von ihm an doch ich kam nicht dagegen an. Schließlich fand ich mich damit ab, dass er nie mehr Teil meines Lebens sein würde. Und dass ich viel zu dramatisch war. Liebeskummer aufgrund von großen Entfernungen durchleben Millionen von Menschen jeden Tag. Liebeskummer ist keine Krankheit und ich redete mir ein: Was von allein kommt geht auch wieder von allein. Ich verdrängte ihn, lernte andere Jungs kennen, ging auf Partys. Zwar waren einige süße und interessante Jungs dabei, doch ob ich wollte oder nicht verglich ich sie ständig mit IHM. Mir fiel auf, wenn jemand ähnliche Augen hatte, wenn jemand ein Lächeln hatte, dass seinem nahe kam. Um ihn ein für alle Mal zu vergessen, flirtete ich auf Teufel komm raus mit einem Jungen, den ich nett fand. Doch es machte keinen Spaß und es kam mir total falsch vor. Und dann endlich war es soweit. Am 21. Februar steht in meinem Tagebuch: Ich liebe ihn nicht mehr. Es war ganz leicht diese Worte zu schreiben und ich sah ein, dass ich die Gefühle niemals halten konnte. Die Erinnerungen jedoch kann mir niemals jemand nehmen.
Doch der Tag, an dem ich ihn wiedersehe musste ja irgendwann kommen. Dass er nun in einem anderen Teil Deutschlands wohnt heißt schließlich nicht, dass er niemals wieder zurück kommt. Er tauchte einfach so beim Training auf und es war nicht der Junge mit den kalten Augen, nein. Er strahlte als er mich sah, kam auf mich zu und umarmte mich. Ohne es zu wollen hatte er binnen weniger Sekunden alles kaputt gemacht, was ich in den letzten Monaten aufgebaut hatte: eine Mauer um den Teil meiner selbst, der ihn noch immer liebte und lieben wollte. Alle Gefühle, alle Erinnerungen kamen wieder hoch und schossen ungebremst in meinen Kopf. Seitdem ist alles wieder wie vorher. Ich liebe ihn. Und Morgen kommt er wieder zum Training. Ich werde jede Sekunde, die ich mit ihm verbringen darf, genießen, denn bei ihm weiß man nie, wann man das nächste Mal die Gelegenheit hat mit ihm zu reden, ihm in die Augen zu sehen. Ob es nicht endlich an der Zeit ist, ihm von meinen Gefühlen zu erzählen? Nein. Was würde das ändern? Er würde fragen, warum ich nicht schon vorher mit ihm darüber geredet habe und ich müsste meine Feigheit eingestehen. Außerdem wäre eine Beziehung bei der Entfernung undenkbar. Ich möchte nicht die sein, die mit gebrochenem Herzen darauf hofft, dass er wiederkommt. Ich möchte nicht von ihm abhängig sein. I don’t wanna play the broken-hearted girl hat Beyoncé so treffend gesagt. Ich möchte frei sein. Frei von den Gedanken an ihn. Doch das ist im Moment unmöglich…Wie vergisst man schon einen Menschen, der in jedem Gedanken ist?




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