Regen...

Autor: Amy Lou
veröffentlicht am: 31.01.2010




Es regnet. Klar, warum auch nicht? Es regnet schließlich ständig. Und es passt zur Stimmung. Naja. Zu meiner Stimmung. Es ist wie im Film. Immer wenn etwas Emotionales passiert, etwas trauriges, fängt es an zu regnen. Nur das es im Film irgendwann heißt: 'Schnitt. Die Szene ist im Kasten.' Und dann wird das Wasser, das aus den Gartenschläuchen gerieselt kommt, ausgestellt, alle sind wieder fröhlich und gehen in die Kantine zum Mittagessen.
Nur hier wird keiner 'Schnitt' rufen und auch keiner wird in die Kantine gehen. Das hier ist die Realität. Auch wenn ich mir sicher bin, dass es in genau dem Moment angefangen hat zu regnen, als dieser langgezogene schrille Piepton erklungen ist. In dem Moment, als sein Herz aufgehört hat zu schlagen und meins für immer zerbrach. Als er mich das letzte Mal aus seinen smaragdgrünen Augen angesehen hat, bevor er sie für immer schließen würden. Als sich die vollen Lippen zum letzten Mal zu einem Lächeln verzogen, sich die süßen Grübchen in den Wangen bildeten und mir die ersten Tränen, nach all den Monaten die Wangen runter rollten. In dem Moment hörte ich die Tropfen, die draußen leise zu Boden fielen und sanft gegen die Fensterscheiben schlugen.
Ich spürte, wie seine Hand langsam kälter wurde und die feinen Gesichtszüge erstarrten. Wie das Leben aus seinem Körper verschwand und das Blut immer langsamer durch seine Adern floss und schließlich zum stillstand kam. Wie seine Körpertemperatur von ungesunden dreiundvierzig Grad auf gesunde siebenunddreißig abebbte, aber dann immer weiter bis zu null sank. Es tat weh. Sein friedliches Gesicht passte nicht zu der kreidebleichen Haut, die sich um seine herausgetretenen Wangenknochen spannte. Noch einmal presste ich seine kalte schwere Hand an meine warmen zitternden Lippen, strich ihm die Haare aus dem Gesicht, küsste ihn auf die Stirn. Dann ging ich.
Irgendwas fehlte. Ich hatte etwas vergessen. Etwas Wichtiges verloren, tief in meinem Innern. Doch ich ging weiter. Ohne zurückzusehen. Ohne mich verabschiedet zu haben. Ohne etwas gesagt zu haben. Ich war gegangen. Einfach so. Für immer. Nie wieder werde ich dorthin zurückkehren. Es regnet. Die großen schweren Tropfen durchweichten meine Jeans und das T-Shirt. Das Wasser lief mir den Rücken runter, prasselte wie harte Schläge auf mein Gesicht. Verwischte die Wimperntusche. Der Regen und nichts anderes.
Ich sah mein Gesicht in einem der Schaufenster. Blass, rot unterlaufende verquollene Augen. Dicke schwarze Schleier liefen von ihnen herunter. Über die Wangen bis hin zum Kinn. Scheiß Regen. Ich sollte aufhören mich zu schminken. Oder nur dann, wenn es nicht regnet. Oder ich würde mir wasserfeste Schminke kaufen. Hauptsache sie verläuft nicht wenn es regnet. Wieder begegne ich meinem Spiegelbild. Oh man, das sieht ja noch schlimmer aus als eben. So geht das nicht weiter. Ich brauche dringend etwas gegen diese verschmierten Augen. Im nächsten Drogeriemarkt verbrauche ich erstmal alle von diesen Tüchern die dort rumliegen, damit man sich die Testschminke aus dem Gesicht wischen kann und dann probiere ich alle wasserfesten Mascara- Tester aus. So, soll es doch regnen so viel es will. Ich laufe weiter durch die Straßen. Bis ich an einem Gebäude ankam, wo ich eigentlich nie wieder hin wollte. Doch jetzt stand ich direkt davor und konnte meinen Blick nicht abwenden. So sehr ich mich auch dagegen sträubte, es funktionierte einfach nicht. Ich stand da. Im Regen und guckte zu dem Gebäude rüber. Alles verschwamm vor meinen Augen. Verdammter Regen. Kann der denn nie aufhören. Ich zwinkerte. Das Bild wurde etwas schärfer. Irgendwer hielt mir ein Taschentuch entgegen. 'Für ihre Augen. Die Wimperntusche ist ganz verlaufen.' Das kann nicht sein. Die ist doch Wasserfest. Selbst bei Regen. Stand auf dem Fläschchen. Ich hörte ein seufzen. Die alte Frau, die mir das Taschentuch hingehalten hatte, guckte mich mitleidig an.
Endlich konnte ich mich losreißen von dem Gebäude. Ich lief davon. Wirre Gedanken schwirrten mir im Kopf herum. Warum schreibt jemand 'Wasserfest' auf ein Mascara- Fläschchen wenn sie selbst bei som bisschen regen verläuft? Warum kamen mir die Augen von der Frau so bekannt vor? Lag es an dem grün? Smaragdgrün. Und warum war ich wieder zu dem Haus hingelaufen? Ich hatte mir geschworen dort nie wieder hinzugehen. Ich hatte mich doch nicht verabschiedet. Ich war einfach gegangen. Beim ersten Mal. Und jetzt wieder. Das erste Mal würde er mir verzeihen. Du warst durcheinander, würde er sagen. Aber warum bist du beim zweiten Mal einfach abgehauen? Wo du doch freiwillig wiedergekommen bist? Er würde enttäuscht klingen, bei diesen Fragen. Wenn er sie stellt. Seine Stimme schnürte mir die Kehle zu. Nein. Sei leise. Verdammt, ich will mich nicht von dir verabschieden. Ich will, dass du zurückkommst. Ich aber werde nie und nimmer in dieses Gebäude gehen und mich von dir verabschieden.
Ich gehe wieder. Will gerade um die Ecke biegen. Doch diesmal gucke ich zurück. Lange. Stehe da. Im Regen. Sehe hinüber zu dem großen weißen Haus. 'Städtisches Klinikum' steht oben in großen roten Buchstaben. Sirenen kommen näher. Aus dem Eingang kommen Leute in weißen Kitteln gelaufen und schieben eine Trage vor sich her. Genauso muss es auch vor vier Monaten gewesen sein. Als er aus dem Wagen hinaus und in das Haus geschoben wurde. Ich bin die ganze Zeit nebenher gelaufen. Durch tausende von Gängen, die alle gleich aussahen. Abends hab ich es durch die Tür wieder verlassen und bin nach Hause gegangen, um am nächsten Tag wieder hinein und am Abend wieder hinaus zu gehen. Tag für Tag. Woche für Woche. Doch er hat das Haus nie wieder verlassen. Und würde es auch nie tun. Der Regen peitscht mir immer noch ins Gesicht. Aber ich wusste eins. Ich konnte jetzt nicht einfach so gehen. Ich musste noch mal rein. Zu ihm. Musste ihm noch etwas sagen. Mich verabschieden. Ich drehte mich um und ging zurück. Im Regen. Vor meinem Gesicht verschwamm alles.
Plötzlich dröhnte hinter mir eine Hupe. Ich fuhr herum. Sah Scheinwerfer. Verschwommen und doch so grell, dass ich die Augen zusammenkniff. Hörte ein Geräusch, als wenn Kies von den Reifen zermalmt werden würde. Ich schrie auf. Zum ersten Mal. Schrie den ganzen Frust, die Angst und die Trauer aus mir heraus. Das Auto raste auf mich zu! Ich wollte mich verabschieden, ihm sagen, wie sehr ich ihn liebe und vermissen werde. Und das es mir Leid tut.
Zu spät, um zur Seite zu springen.









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