Lautlos rann eine Träne...

Autor: Oliver (2)
veröffentlicht am: 06.07.2005




Lautlos rann eine einzelne Träne seine Wange herab, verharrte für einen kurzen Augenblick am Kinn, tropfte auf den feuchten erdigen Boden, wo sie sich mit dem Wasser im Erdreich vermischte und bis zur Unsichtbarkeit verdünnte.
Alles was von ihr blieb war eine nasse salzige Spur im Gesicht des Mannes. Er hob den Kopf, reckte mit geschlossenen Augen sein Gesicht in den Regen, der auch das letzte Zeugnis der Träne abwusch. Niemand hatte diese Träne gesehen; niemand würde sich an sie erinnern; niemand wusste aus welchem Schmerz und welcher Trauer sie geboren worden war. Kaum war sie dem Auge des Mannes entronnen, war sie auch schon für alle Ewigkeit verschwunden.
Der Mann fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und setzte seinen Weg fort.

Die Dämmerung war hereingebrochen. Der Regen plätscherte mit leisem Rauschen auf die Gräber mit ihren verwitternden Grabsteinen und Kreuzen, weichte die Wege zwischen den Gräberreihen auf und bildete Pfützen, in denen die Regentropfen Blasen warfen.
Das flackernde Licht der Kerzen in den Grableuchten nahm scheinbar an Helligkeit zu, je mehr die Dunkelheit fortschritt und das monotone Plätschern des Regens unterstrich die herrschende Trostlosigkeit, machte benommen und schläfrig.
Hier herrschte der Tod, hier war sein Reich.
Doch der Mann fürchtete sich nicht. Er beneidete die Toten, die ihre ewige Ruhe gefunden hatten. Sie lagen in ihren nassen, kalten Gräbern und verrotteten vor sich hin. Und nichts konnte sie mehr stören. Sie hatten keine Bedürfnisse, keine Erinnerungen, keine Schmerzen. Sie fühlten keine Verzweiflung und keine Trauer.
Ein Hauch von Neid erfüllte den Mann.
Er sehnte den Tod herbei. Die Befreiung von allem Leid. Früher oder später würde er ihn doch sowieso ereilen. Warum nicht hier und jetzt?
Er blieb stehen und versuchte die Inschrift auf einem Grabstein zu entziffern. Nur ein Name, ein Datum und ein frommer Spruch wiesen darauf hin, dass hier ein Mensch begraben war.Nur ein Mensch, der sein Leben gelebt hatte und nun bis in alle Ewigkeit tot bleiben würde. Eine ganze Welt, die einmal in dieser Person existiert hatte, war von einem Augenblick zum anderen verschwunden. Schon bald würde sie in Vergessenheit geraten sein und eins mit der Natur werden. Vielleicht war sie auch schon vergessen. Der ungepflegte Zustand des Grabes ließ diese Vermutung zu.

Der Mann war einsam.
Zwar hatte er Freunde, die ihn gern hatten, aber niemanden, der ihn liebte, mit ihm lebte und der sein Leben mit ihm teilte, mit ihm zusammen alt werden wollte.
Es hatte einmal eine solche Person gegeben. Eine wunderschöne, zärtliche und einfühlsame Frau, die ihn sehr liebte, immer für ihn da war und die ihm alles bedeutete.

Nein, sie war nicht tot, aber sie hatte ihn verlassen. Er wusste nicht warum. Zu Anfang hatte er sich die Schuld gegeben; hatte sie gefragt warum..., aber sie gab ihm keine Antwort und er hatte das Gefühl in einen bodenlosen Abgrund zu fallen.
Er grübelte, welchen Fehler er gemacht haben könnte, Möglichkeiten gingen ihm durch den Kopf, die er wieder verwarf und wieder von neuem aufgriff. Alles schien sich zu drehen. In seinem Kopf herrschte ein Chaos an Gefühlen und Gedanken. Das einzige, was er vollkommen klar und schmerzhaft spürte war, welch unermesslichen Verlust er erlitten hatte. Er vermisste ihre Nähe, das Gefühl ein Teil von ihrem Leben zu sein, ein unersetzlicher Teil.Die Erkenntnis, dass er selber womöglich sein Unglück, seine Einsamkeit heraufbeschworen hatte, ließ ihn verzweifeln. Er lebte sein Leben, aber es war nur noch mit wenig Freude erfüllt.Die Liebe, die er für sie empfand war ungebrochen; machte es ihm unmöglich Ruhe in seine Gedanken zu bringen.
Da er von Glück und Freude erfüllte Plätze nicht lange ertragen konnte, zog es ihn immer wieder zu einsamen und trostlosen Orten. Hier fühlte er sich zu Hause. Dies war sein Leben. Er würde früh sterben, dass glaubte er zu wissen. Die Trauer, die Einsamkeit zerfraßen ihn langsam aber sicher. Doch dieses Wissen machte ihm keine Angst. Er nahm es hin, sehnte den Tod sogar herbei. Als eine Art Befreiung, als eine Erlösung sah er ihn.
Sein ganzer Lebensinhalt, sein Sinn des Lebens war zerstört.
Der Mann seufzte tief und wandte sich mit langsamen Schritten dem Ausgang zu.
In wenigen Minuten würde der Friedhof geschlossen werden und bis zum nächsten Morgen, würde niemand mehr die Toten besuchen.
Aber wer konnte es schon wissen? Vielleicht würde er bald einer der ihrigen sein und Öffnungszeiten für ihn keine Rolle mehr spielen.









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