Unterm Herbstbaum

Autor: Jiyu no Kotoba
veröffentlicht am: 31.10.2008




Ich seufzte und schloss die Augen. Einen Moment Ruhe. Durch die Tür, die vom Vorraum der Toiletten auf den Flur ging, drangen die Stimmen der anderen Schüler, die sich nach draußen auf den Hof begaben.
Ich lehnte gegen die kühle Wand, genoss den kurzen Augenblick des Friedens. Ich atmete tief durch, öffnete die Augen - und sah direkt in ein Paar blauer Augen, die von dunklen Wimpern umrahmt wurden. Das Mädchen, zu dem diese Augen gehörten, hatte blond-braune Haare, die ihr offen über die Schultern fielen. Ihr rechtes Auge war zum Teil vom Pony verdeckt. Das Gesicht wäre hübsch gewesen, wenn es nicht so traurig, so abgespannt ausgesehen hätte. Durch das, nach einem langen Schultag leicht verblasste, Make-up, erkannte man dunkle Augenringe.
Müde starrte ich mein Spiegelbild an. Ich hörte, wie die Klinke runtergedrückt wurde, und stieß mich hastig von der Wand ab. Schnell ließ ich mir Wasser über die Hände laufen und tat so, als ob ich mir gerade die Hände waschen würde.
'Oh, Mareike. Wie fandest du die Klausur?'
Als ich aufsah und den Wasserhahn zudrehte, war von dem abgekämpften Mädchen nichts mehr zu sehen. Aus dem Augenwinkel sah ich die Spiegelung einer lächelnden, glücklichen jungen Frau, der es an nichts fehlte und die sich freute, im Leben da zu stehen, wo sie stand. Tja, wie sehr so ein Spiegel doch die Wahrheit verzerren konnte.
'Ach, eigentlich fand ich sie ziemlich einfach. Wie sah's bei dir aus?'
Resigniert schüttelte Nicole ihre blonden Locken. 'Nicht so gut. Man könnte echt neidisch auf dich werden. Du kannst einfach alles. Und das, ohne zu lernen.'
Ich zuckte mit den Schultern. 'Ich gehe raus. Die anderen warten auf mich.'
'Bis nachher!'
Ich nickte ihr lächelnd zu und trat auf den Flur. Langsam begab ich mich zum Hof. Draußen wehte ein kalter Herbstwind und so zog ich die Jacke enger um mich.
'Mareike, da bist du ja!' Durch die anderen Schüler kam mein Freund auf mich zu. Ich blieb stehen und betrachtete ihn, während ich wartete. Nils war etwas größer, als der Durchschnitt, hatte kurzes schwarzes Haar und eisblaue Augen. Sein Gesicht war die perfekte Mischung zwischen Schönheit und maskulinen Zügen. Auch sein Benehmen war tadellos - er war der Traum einer jeden Schwiegermutter. Und laut allen, die uns kannten, waren wir das perfekte Paar.
Als er mich erreichte, gab er mir einen Kuss und zog mich dann hinter sich her zu den anderen. Wir redeten, lachten, lästerten, unterhielten uns über die Eskapaden dieses Stars und über den niedlichen Nachwuchs von jenem. Ich war eine von vielen. Wir sahen uns eigentlich nicht ähnlich, doch im Grunde genommen glichen wir uns in erschreckendem Maße. Die gleichen Schals, das gleiche Make-up, die gleichen modischen Markenklamotten… Selbst die Art wie wir redeten, war dieselbe!
Meine Gedanken schweiften ab. Über uns erstreckte sich ein klarer Himmel an dem nur ein paar Wölkchen ihrer Wege gingen. Das Schulgelände war weitläufig, schien viel zu groß zu sein für die dreihundertpaarundsechzig Schüler, die auf diese teure Eliteschule gingen. Die weit auseinander stehenden Gebäude, die Grünflächen und Sitzgelegenheiten… das alles vermittelte ein Gefühl der Freiheit. Doch inmitten all diesem zur Schau gestelltem Reichtum, zwischen meinen Freunden, fühlte ich mich wie in einem goldenen Käfig, und die Hand, die sich um die meine schloss, war eine Kette, die mich festhielt.

'Tut mir echt Leid, Schätzchen. Aber es geht wirklich nicht! Ich wünschte ja auch, ich hätte das früher gewusst. Ruf doch mal Nils an, vielleicht kann er ja kommen.'
Ich seufzte ins Handy. 'Nein, er kann heute nicht. Er hat Fußballtraining.'
'Oh… Dann… ehm…'
'Ist egal. Wir sehen uns dann spätestens Montag. Machs gut.'
'Ja, du auch, Schätzchen.'
Ich legte auf und steckte das Handy wütend ein. Na ganz toll. Erst wollte sie unbedingt mit mir hier essen gehen und dann, fünf Minuten, nachdem wir uns treffen wollten, sagte sie ab.
'Was darf's denn für dich sein? Oder wartest du noch auf jemanden?'
'Nein' erwiderte ich leicht patzig. 'Die kommt nicht mehr.'
Ich sah kurz auf die Speisekarte und entschied mich für etwas absolut figurfeindliches.
'Ich hätte gerne ein Hawaii-Steak mit Pommes und Curryreis.'
Er notierte und erkundigte sich: 'Zu trinken?'
'Ehm… Einen San Francisco.'
'Darf es sonst noch etwas sein?'
'Nein, erstmal nicht, danke.'
Er nickte lächelnd und verschwand. Jetzt hieß es warten und das Knurren meines Magens zu ignorieren. Das Restaurant, in dem ich saß, war bis auf den letzen Tisch besetzt. Hier war es immer voll. Es war ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche und junge Erwachsene. Ich war gerade in Gedanken versunken, als mich eine leicht brummige Stimme wieder ins Hier und Jetzt holte.
'Ist hier noch frei, oder kommt noch jemand?'
Ich sah auf und blickte in ein Paar sanfte, braune Rehaugen. Die restliche Erscheinung des Kerls, unterschied sich jedoch drastisch vom Ausdruck seiner Augen. Er hatte langes, braunes Haar, das ihm leicht gewellt auf die Schultern viel. Obwohl es draußen ausnahmsweise fast nicht windig war, war es zerzaust. Sein langer, schwarzer Mantel ließ ihn noch größer erscheinen, als er ohnehin schon war. Auf seinem dunklen T-Shirt prangte der Schriftzug 'Bullet For My Valentine'. Darunter war das Bild eines Totenkopfes an dessen rechter und linker Seite die Mündungen von Pistolen vorbei gingen. Vermutlich ein Bandshirt. Um den Hals und um die Handgelenke - soweit ich sie unter dem Mantel sah - trug er Nietenbänder. Mit ziemlich… langen Nieten. Er trug mehr Gürtel, als man eigentlich brauchte - um genau zu seien drei - die scheinbar auch nicht dem Zweck dienten, seine Hose da zu halten, wo sie hingehörte. Auch hier kam einiges an Metall zum Vorschein.
Kurz sah ich zu seinem Kumpel herüber, der, obgleich ähnlich gekleidet und schwarzhaarig, weniger hart und dunkel erschien.
'Und?'
Ich sah wieder zu ihm zurück. Das war genau der Typ Mensch, mit dem niemand aus meinem Bekanntenkreis zu tun haben wollte.
'Klar, setzt euch.'
Mit einem zufriedenen Brummen ließen sie sich auf die Stühle fallen. Der Schwarzhaarige rechts von mir und der andere mir gegenüber. Scheinbar aßen sie öfters hier, denn sie würdigten die Speisekarte keines Blickes, sondern riefen den Kellner direkt zu sich.'Ja, was darf's sein?'
'Zweimal Schnitzel Royal, einen San Francisco und einen Exotic.'
'Kommt sofort.'
Der Kellner wandte sich ab und die beiden Metaller unterhielten sich über Gott und die Welt. Ich tat so, als würde ich hoch interessiert meinen Terminkalender durchsehen, doch eigentlich hörte ich ihnen zu. Eins musste man ihnen lassen. Sie hatten eine verdammt realistische Weltanschauung. Und sie konnten gute Witze reißen - auch, wenn sie zum Teil recht makaber waren.
'Soo, zweimal San Francisco und einmal Exotic.' Der Kellner stellte die Gläser vor uns ab. Den Exotic bekam der Schwarzhaarige.
Kurze Zeit später erschien eine Kellnerin mit unserem Essen.
Ich nahm gerade mein Besteck in die Hand, die Augen fest auf meinen Teller gerichtet, als die brummige Stimme wieder erklang. Dieses Mal an mich gerichtet.
'Hm, du sag mal, wie heißt du eigentlich? Das ist jetzt nicht aufdringlich gemeint oder so, aber ich esse nur ungern mit Leuten zusammen, deren Namen ich nicht kenne. Das ist im übrigen Finn und ich bin Daniel.'
Scheu sah ich ihm in die Augen. Er trat irgendwie ganz anders auf, als die Kerle, die ich sonst so kannte. Viel selbstbewusster und - reifer. Und das lag nicht nur daran, das er vermutlich tatsächlich zwei, drei Jahre älter war als sie.
'Ich, ehm… Mein Name ist Mareike.'
Er grinste halb und streckte mir über den Tisch hinweg die Hand hin. Verdutzt ergriff ich sie. Seine Hand war so groß, das meine darin verschwand.
'Angenehm. So, und jetzt lasst uns was Essen.'
Von jetzt an wurde ich in das Gespräch der beiden mit einbezogen, auch wenn ich mich nicht ganz traute, von mir aus etwas zu sagen. Aber dennoch… es war ein schönes Gefühl mit den zweien zu reden, die so völlig anders waren, als die Leute, die ich bisher gekannt hatte.Doch irgendwann waren die Teller Leer und auch die zweiten Cocktails.
'Wir würden gerne bezahlen.'
'Ja, einen Moment bitte.' Die Kellnerin verschwand und tauchte kurz darauf wieder auf. 'Geht das getrennt oder zusammen?'
Bevor ich etwas sagen konnte, meinte Daniel: 'Zusammen.'
'Hä, aber… Nein, das geht doch nicht!'
Ungerührt zog er seinen Geldbeutel hervor und zahlte für uns alle drei.
'Beim nächsten Mal bist du wieder dran, Finn.' Er stand auf und ging mit Finn zur Tür. Ich lief hinterher.
'Aber ich Glückspilz brauche nur für zwei zu zahlen.' Finn grinste seinen Kumpel an.'Hör mal, Daniel, ich bezahl das selber! Wieso willst du denn unbedingt bezahlen?Wir standen vor der Tür. Daniel holte einen Schlüssel aus der Tasche schloss einen kleinen Wagen auf, der eindeutig schon viele Jahre gesehen hatte.
'Ganz einfach.' Er lächelte mich an. 'Weil du süß bist.'
Er ließ mich stehen und stieg zusammen mit Finn ein. Und ich? Ich blieb völlig verdattert vor dem Restaurant zurück.

Was er wohl gerade macht? Ich… verdammt, ich hasse diese Straße! Überall Matsch. Da werden die Schuhe immer so - ach, egal. Ich glaube, ich gehe demnächst öfter mal in das Restaurant… wie hieß es noch? Hat mich so an Indianer erinnert… achja, 'Pueblo' Das kam immer bei Karl May vor. Vielleicht treffe ich ihn da ja - hups, Kopf einziehen. Immer diese - im Herbst sind die Äste immer so - tun immer so weh, wenn man dagegen läuft. So ohne Blätter.
Verträumt setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich wusste nicht, wieso, aber seit ich Daniel getroffen hatte - vor einer Woche - spukte er ständig in meinen Gedanken herum.
Die nächsten Stunden verbrachte ich damit so zu tun, als würde meine Aufmerksamkeit allein der Tafel und den Lehrern gelten und nicht irgendwelchen Metaller mit Rehaugen, die Fremden das Essen Bezahlten.
'Hey Mareike, was ist denn los?' Besorgt sah Nils mich an, während wir über den Pausenhof gingen. 'Du bist den ganzen Tag schon so abwesend.'
'Nichts, es ist nichts.' Verdammt. Wie… wie bringt man seinem Freund bei, dass es aus ist?'Nils, hör mal...'
'Ich weiß was!' Er überhörte mich. 'Heute ist Freitag. Wir treffen uns heute Abend,…''Nein, Nils, warte!' Entweder hörte er schwer, oder er ignorierte mich.
'…dann gucken wir zusammen ein paar DVDs, kuscheln ein bisschen, ' er legte seinen Arm um meine Taille. Ich versteifte mich. Verdammt noch mal, es war vorbei und ich wollte ihm das endlich sage! 'Und danach geht der Abend dann… romantisch weiter.' Er grinste mich an, doch es gefror ihm im Gesicht, als ich mich unwirsch losmachte und zickte: 'Jetzt lass mich doch mal ausreden, Nils! Wir werden uns heute Abend nicht treffen… und… und kuscheln werden wir nie wieder. Es ist vorbei, Nils. Ich… ich liebe dich nicht mehr.'Die Glocke läutete, so als wolle sie meinen Entschluss bekräftigen. Es war das Ende einer Pause… und das Ende einer Beziehung. Ich fuhr herum und hastete zur Klasse. Ich hatte Tränen in den Augen. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr geliebt, vielleicht noch nie. Aber ich hatte ihm wehgetan.







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