Einfach lieben können

Autor: Lilly (2)
veröffentlicht am: 19.10.2008




'Alles Gute zum 22. , Schatz!'
Ich stöhnte verschlafen, tastete auf dem Nachttisch nach meiner Brille und richtete mich im Bett auf. Meine Mutter und mein älterer Bruder Sven standen im Türrahmen und grinsten mich an.
'Wie fühlst du dich, mit 22 Jahren, Schwesterchen?' neckte mein Bruder mich. Ich lächelte schwach. Er versuchte es immer wieder, mich damit auf die Palme zu bringen, dass ich elf Monate jünger war als er. Aber dank des geringen Altersunterschiedes hatten wir uns immer blendend verstanden, und waren nicht nur Geschwister, sondern auch Freunde.
Nun ergriff meine Mutter wieder das Wort. 'Du wirst dich sicher schon fragen, was wir dir dieses Jahr zum Geburtstag schenken.' Sie machte kurz Pause und wartete, doch als ich nichts erwiderte, fuhr sie fort. 'Was hältst du von einer kleinen finanziellen Unterstützung am Anfang, für deinen neue Wohnung?'
Ungläubig starrte ich abwechselnd Sven und meine Mutter an. 'Wie...Du - du hast eine Wohnung für mich gesucht?'
'Ja...Naja...nein' , gab meine Mutter zu. 'Aber wir werden dir natürlich gerne bei der Suche helfen.'
Ich konnte mich nicht entsinnen, jemals den Wunsch einer eigenen Wohnung geäußert zu haben, und war dementsprechend tatsächlich überrascht. Eigentlich hatte ich nie das Bedürfnis verspürt, bei meinen Eltern auszuziehen, später vielleicht, aber doch noch nicht jetzt. Und ganz allein in einer Wohnung leben, nachts einsam in seinem Bett liegen, keiner im Haus, den man kennt? Das konnte ich mir nicht vorstellen.
Die letzten (und einzigen) 22 Jahre meines Lebens hatte ich bei meinen Eltern in unserem Einfamilienhaus in Dieburg gelebt, die Umgebung war toll, mit meinen Eltern kam ich sehr gut zurecht. Warum also ausziehen?
'Warum?' , fragte ich geradeheraus. 'Warum wollt ihr, dass ich ausziehe bei euch?''Dein Vater und ich haben uns überlegt, du sollst endlich einmal selbstständiger werden. Bisher hast du ja nicht viel im Haushalt geholfen, das soll sich ändern. Du wirst deine eigene Wohnung managen, und das ist eine gute Vorbereitung auf dein späteres Leben.'Welches spätere Leben? War ich nicht alt genug, um mein Leben allein leben zu können? Konnte ich meine Entscheidungen nicht für mich selber treffen? Welchen Teil von meinem Leben hatte ich denn noch vor mir? Ich meine, außer dem Teil, in dem man fertig studiert hat und als alte Hausfrau in seinem Haus einem trampeligen Ehemann hinterher putzt und sich hin und wieder fragt, wofür man eigentlich studiert hat. Den bau-ein-Haus, krieg-ein-Kind, Pflanz-einen-Baum- Teil? Das war eigentlich nicht so ganz mein Ziel gewesen, viel eher wollte ich mir einen Job suchen und für mich selber Geld verdienen. Keinen Ehemann, keine Kinder, keine Familie, bis auf meine Mutter, meinen Vater und meinen Bruder eben. Und dafür konnte ich schließlich weiterhin bei meinen Eltern wohnen, oder etwa nicht?

Als ich mir und Sven am Nachmittag einen Kaffee in der Küche kochte, hatte ich die Neuigkeit immer noch nicht so ganz verdaut. Ich hatte keine besonders gute Laune, und schon seit Stunden nicht mehr mit meiner Mutter geredet, was allerdings daran lag, dass sie auf der Arbeit war. Jaja, die armen Menschen ohne einen ordentlichen Abschluss, die sich ihr Geld dadurch verdienen müssen, im Supermarkt O.B.s an Jugendliche, Bio-Kost an Schwangere und Lockenwickler an alte Frauen zu verkaufen. Und das auch noch Samstags. Als Sven hinter mir in die Küche trat, musste ich unbedingt seine Meinung hören. 'Ich fasse es nicht, dass unsere Eltern mich einfach so rausschmeißen!'
'Na ja...' Sven nahm mich von hinten in seine Arme, 'Ich halte das für eine gute Idee. Als ich 22 geworden bin, habe ich bereits seit zwei Jahren nicht mehr hier gewohnt.'
'Aber du wolltest auch ausziehen! Ich habe nie gesagt, dass ich hier rauswill!'
Er zögerte. 'Ja, schon, aber vielleicht wollen unsere Eltern auch mal ihre Ruhe haben. 23 Jahre lang konnten sie ihre Zweisamkeit nicht genießen, und jetzt?'
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Trotzdem. Ich sah das nicht ein. Hätten meine Eltern sich früher überlegen sollen. 'Sie hätten mich ja nicht kriegen müssen.'
Sven stöhnte. 'Blödsinn. Sie lieben dich doch. Aber du solltest das eben einsehen. Und glaub mir, wenn du nicht bei den Eltern lebst, kannst du dir viel mehr erlauben...' Sein typisches Sven-Grinsen lag auf seinen Lippen.
'Ich fühle mich abgeschoben und einfach wie rausgeschmissen...'
'Du musst das Geld nicht annehmen. Unsere Eltern würden dich nicht zwingen, auszuziehen, und das weißt du genau. Du könntest ihnen den aber den Gefallen tun, finde ich. Weißt du, wie viel sie für uns getan haben und was für Opfer gebracht? Sie sind liebende Eltern. Du weißt wohl gar nicht, was sie alles für uns tun... Aber ich würde alles tun, um den beiden auch nur einen kleinen Wusch zu erfüllen.'
Ich murmelte etwas vor mich hin. In gewisser Weise hatte mein Bruder Recht, ich sah das ein. Aber meine Eltern hätten mich wenigstens fragen können oder selbst mit mir reden. Das musste Sven nicht für sie tun, fand ich.
'Du kannst es dir ja noch überlegen. Komm, Judith, wir schneiden den Kuchen an.' Mit diesen Worten schob Sven mich aus der Küche.

Am Abend hatte ich meine Entscheidung getroffen. Ich hatte mich entschieden, etwas Neues auszuprobieren. Meine Eltern und mein Bruder saßen einträchtig vorm Fernseher, als ich ins Wohnzimmer kam um ihnen meine Pläne mitzuteilen. 'Ich will in eine Wohngemeinschaft ziehen... eine kleine, natürlich. Zu viele Leute kann ich nicht haben. Also, ich würde gerne einfach mit einem guten Freund zusammen ziehen... Mit Sven.'
Meine Mutter sah mich überrascht an, mein Vater starrte ungeniert weiter den Bildschirm an. 'Schön, schön, Kleines...' nuschelte er in seinen Bart.
'Jeder kriegt ein eigenes Zimmer, alles andere können wir uns teilen...Oh, Sven, das wird so toll!', schwärmte ich.
Svens Gesichtsausdruck verriet mir alles. 'Warum nicht...?'
Er lächelte mich an. 'Kristina will nächste Woche bei mir einziehen. Genug Platz ist in meiner Wohnung nicht...'
'Dann suchen wir uns eine größere!', unterbrach ich ihn. 'Ich zahle ja einen Anteil mit.'
'Lässt du mich vielleicht ausreden? Danke. Ich glaube nicht, dass Kristina so begeistert wäre. Weißt du, Judith, wir wollen doch selber eine Familie gründen. Die kleine Pia, beziehungsweise der kleine Dennis ist unterwegs, wir werden eine eigene kleine Familie haben...'
'Aber ich könnte Kristina mit dem Haushalt helfen, in ein, zwei Monaten wird sie sich da kaum mehr alleine drum kümmern können. Hochschwangere müssen sich schonen...'
Doch Sven bleib hart. 'Nein. Das ist mein letztes Wort.'
Enttäuscht und verletzt zog ich mich in mein Zimmer zurück. Ich war unglaublich wütend auf Sven und fühlte mich allein gelassen. Mochte er mich nicht mehr?
Es dauerte eine Weile, bis meine Wut verdampft war. Ich sah ein, dass er ein Problem damit hatte, wenn ich bei ihm einzog. Aber meine Entscheidung stand: Ich würde nicht alleine in eine Wohnung ziehen!
Zuerst fragte ich meinen besten Freund Adrian, ebenfalls Student. Er lebte alleine in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Doch auch er winkte ab. 'Du, da wird meine Freundin nicht so begeistert sein, du weißt doch wie schnell sie eifersüchtig wird.'
Schon klar. Ein anderer guter Freund, Felix, musste ebenfalls passen: 'Sorry, Maus, aber in meiner Wohnung ist der Platz so knapp und alles so eingesaut, da willst du gar nicht wohnen müssen...'
Ähnliche Gründe nannten mir auch Dani, Jana, Kirsten, Dominik und Stefan.
Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, als es zu jener schicksalhaften Begegnung kam. Ich war von der Uni auf dem Weg zur U-Bahn. Da es Hunde und Katzen regnete, lief ich im Laufschritt. Plötzlich stolperte ich über etwas und fiel auf den Gehweg. Fluchend rappelte ich mich auf und sah mich nach dem um, worüber ich gestolpert war. Ein paar Springerstiefel mit bunten Schnürbändern ragte aus einer Nische. Der dazugehörige Junge saß dort
regengeschützt und sah mich seelenruhig an, als wären das nicht seine Schuhe gewesen, über die ich eben gestolpert war. In der rechten Hand hielt er eine Flasche Radler. Er hatte karierte Leggin-Hosen und eine über und über mit Nieten und Aufnähern bedeckte Lederjacke an. 'Gegen Nazis' und 'Bildungsunfähig' las ich. Er hatte einen blau gefärbten Irokesen-Haarschnitt, welchen er nicht hochgestellt hatte.
'Kannst du nicht aufpassen?!' , meckerte ich ihn an.
'Bin ich über deine Füße gestolpert? Du bist diejenige, die sich entschuldigen sollte. Immer diese Spießer...'
Den letzten Satz überhörte ich großzügig. Auch wenn ich der Meinung war, eindeutig im Recht zu sein, antwortete ich: 'Ja, ist ja okay. Du hast Recht, 'tschuldigung.'
Hinterher konnte ich selbst nicht genau sagen, warum, doch wahrscheinlich hatte ich so reagiert, weil ich den Jungen interessant fand. Ich hatte mich noch nie mit einem richtigen Punker unterhalten. 'Willst du zur Entschädigung einen mit mir trinken gehen? Ich lad' dich ein.'
Der Junge schüttelte den Kopf. 'Nöö.'
Ich hielt ihm seufzend ein Zwei-Euro-Stück hin, was ihn so richtig wütend zu machen schien. Er drehte den Kopf weg. 'Ich bettel nicht. Kaum zu glauben, aber bestimmt 90 Prozent derer, die so rumlaufen wie ich, haben ein Zuhause und einen Job.' Feindselig starrte er mich jetzt an.
'Ach so...' Ich fühlte mich hilflos. 'Und was machst du? Und wo wohnst du?'
Ich setzte mich zu ihm in die Nische. Der Junge rückte ein Stück ab.
'Koch. In 'nem noblen Schuppen, , kennste? Wohn bei meinen Eltern, weil man da verdammt schlecht verdient, 'n bisschen mehr und ich kann mir 'ne eigene Wohnung leisten, 'ne kleine.'
Mir kam wieder meine WG-Partnersuche in den Sinn. Aber mit dem Typen wollte ich nicht unbedingt gemeinsam wohnen. Obwohl er mir im Endeffekt ein recht normaler Mensch zu sein schien. Das wunderte mich, doch ich redete mir ein, dass ich schließlich noch nie Bekanntschaft mit einem Punker geschlossen hatte und von daher nichts über ihre Lebensgewohnheiten sagen konnte.
'Na ja, ich muss los. Sonst verpasse ich meine Bahn.' Ich sprang auf. 'Man sieht sich.'
Ich meinte, den Typen leise lachen zu hören. Was war daran so lustig? Nach einem Blick auf die Uhr nahm ich meine Beine in die Hand und lief.







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