Mondfinsternis Teil 4

Autor: Jiyu no Kotoba
veröffentlicht am: 23.05.2008




Kapitel 4 – Todesangst

Die nächsten zwei Wochen verliefen relativ ereignislos. Das Wetter war schön, es gab eher wenig Hausaufgaben auf und außerdem zeigte mir Marion ein wenig die Gegend. In der Schule fand ich mich mittlerweile auch ziemlich gut zurecht.
Mein Vater und die Arbeiter hatten die Arbeit am Hotel fast abgeschlossen. Er hatte den Namen des Gebäudes für das Hotel übernommen. Villa Nachtstein. Das erinnerte mich wieder daran, dass Marion gesagt hatte, es gäbe eine Legende zum Gebäude der Schule und des Hotels. Also setzte ich mich am ersten regnerischen Tag seit langem an den PC, um zu googlen. Ich las Seiten über Seiten und nutzte auch andere Suchprogramme, doch nirgends fand ich etwas, das auch nur annähernd einer Legende glich. Das hieß wohl, ich musste mir doch einen Erzähler suchen. Aber wenn es schon eine Legende zu meinem neuen Heim gab, dann wollte ich sie auch kennen. Missmutig fuhr ich den PC runter, als mein Telefon klingelte.
„Eleonora Heinrichs“ meldete ich mich.
„Hi Leo!“ erklang Marions aufgekratzte Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Tag.“
„Duhu, sag mal, hast du Lust Morgen mit mir ein bisschen durch die Stadt zu gehen? Ich brauch neue Schuhe.“
„Bei dem Wetter?“
„Morgen soll’s wieder schöner werden.“
„Hm.“
„Bütte“ bettelte sie.
„Hm... Okay“ brummte ich.
„Oh, danke! Du bist ein Schatz!“
„Vorsicht. Sonst überleg ich’s mir noch anders.“
„Oke, oke, dann bist du halt kein Schatz“ lachte Marion.
„Und wann willste gehen?“ erkundigte ich mich.
„So gegen vier? Geht das?“
„Ja. Geht. Mit Bus oder Rad?“
„Lieber Bus. Mit Tüten Fahrrad zu fahren ist scheiße.“
„Hm, ja. Is was wahres dran. Okay, Bus. Dann bis morgen früh.“
„Jap, bis dann. Tschüß!“
Ich legte auf und wandte mich meinen Hausaufgaben zu. Normalerweise machte ich sie eher selten, doch mit dem Schulwechsel hatte ich auch angefangen, mir mehr Mühe zu geben. Blieb nur noch die Frage, wie lange dieser Zustand anhielt.
Während ich über Französisch büffelte, wurde ich immer müder. Als ich mich dann auch noch durch die ganzen Mathematikaufgaben kämpfte, nickte ich irgendwann weg.

„Guten Morgen Leo!“ Gut gelaunt stürmte Marion durch die Klasse auf mich zu. „Sag mal, wo warst du denn heute früh? Ich hab voll lange gewartet.“ Sie zog einen Schmollmund.
„Hab verschlafen“ knurrte ich. Ich war immer noch nicht richtig wach.
„Du hast verschlafen?“ Verdutzt sah sie mich an. Marion wusste, dass ich eigentlich der totale Frühaufsteher war. Die Antwort auf dieser Frage blieb mir zum Glück erspart, da in eben diesem Moment Herr Vango den Raum betrat.
„Guten Morgen“ begrüßte er uns.
„Morgen“ – „Moin“ – „Guten Morgen“ gab die Klasse mehr oder weniger motiviert und ziemlich durcheinander zurück.
In der darauf folgenden Stunde musste ich dann beichten, dass ich kein Mathe hatte. Ich war gestern, nachdem ich eingeschlafen war, nicht mehr aufgewacht. Und hatte dem entsprechend keine Hausaufgaben. Vor der Schule hatte ich ja keine Zeit mehr gehabt, und Vango passte immer auf wie ein Luchs, so dass ich auch in Bio keine Chance zum Abschreiben gehabt hatte.
Den gesamten restlichen Tag über konnte ich mich nicht richtig konzentrieren. Weder auf den Unterricht, noch auf das, was Marion mir erzählte. Wobei ich weder das eine, noch das andere schlimm fand.
„Hoffentlich bist du nachher etwas fitter“ seufzte sie, als wir nebeneinander nach Hause radelten.
„Hm? Wann nachher?“
„Du hast es jetzt nicht allen Ernstes vergessen. Oder?“
Ich schaute nur stumm nach vorne. Was sollte ich vergessen haben?
„Wir wollten zusammen in die Stadt?“
„Ach ja.“ Total verpennt.
„Hau dich am besten gleich noch mal hin“ riet sie mir.
„Hm. Ma’ sehen.“ Bemuttern brauchte sie mich jetzt nicht.
„Wehe du kommst nicht.“
„Nee, nee.“
„Dann bis nachher!“ Marion bog ab und ich fuhr alleine weiter. Dadurch, dass die Wolken kaum Sonne durchließen, wirkte der Wald dunkler und bedrohlicher als sonst. Ich stand auf und trat kräftiger in die Pedale, um schneller zu Hause zu sein. Nach einigen Minuten Radfahrt rollte ich meinen Drahtesel in den Schuppen.
„Hi Ma!“ rief ich, als ich das Haus betrat.
„Hallo Schätzchen!“ erklang die Antwort irgendwo aus den Tiefen des Hauses. Mittlerweile sah man eindeutig, dass Hotel, welches hier mal entstehen sollte. Zumindest innerhalb der nördlichen zwei Drittel des Gebäudes. Das letzte Drittel war unser privater Bereich. Innerhalb dieser Woche sollten wie auch endlich die neue Haustür bekommen, damit wir nicht immer durch die Haupthalle mussten, wenn wir nach Hause kamen.
„Kannst du mir nachher mit dem Bettzeug helfen?“ Meine Ma kam mir mit umgebundener Schürze entgegen.
„Wann und wie lange?“
„Ich weiß nicht wie lange das dauert. Aber schon ein bisschen länger. Und wann? So in einer Stunde.“„Hm. Nee, lieber nicht. Ich will nachher noch mit Marion weg. Und Hausaufgaben hab ich auch noch auf.“
„Ach, und wieso weiß ich von deiner Verabredung nichts?“
Ich zuckte mit den Schultern und ging an ihr vorbei in Richtung meines Zimmers. Dort warf ich mich auf’s Bett und versuchte zu schlafen. Doch je mehr ich mich anstrengte, umso weniger gelang es mir. Schließlich nahm ich mir meine aktuelle Lektüre. Sie war schon ganz abgegriffen, so oft hatte ich dieses Buch bereits gelesen. Nach ein paar Kapiteln sah ich auf die Uhr und sprang erschrocken auf.„Verdammt“ zischte ich, packte Portemonnaie, Handy und Kaugummi ein und lief schnell ins Bad. Dort machte ich mich im Eiltempo fertig und rannte aus dem Haus.
„Bin weg!“ brüllte ich über die Schulter, als ich das Haus verließ. Ich hoffte, meine Mutter würde mich hören. Aber selbst wenn nicht. Sie wusste ja bescheid. Draußen krallte ich mir mein Rad. Wenn ich mit dem Bus fahren wollte, musste ich immer erst mit dem Fahrrad ins Dorf, da wir hier keine Bushaltestelle hatten.
Ich hatte noch mal verdammtes Glück. Ich schloss gerade mein Fahrrad ab und zog eine Tüte über den Sattel, um ihn vor Regen zu schützen, als der Bus kam. Er hielt und ein Pärchen stieg aus. Der Busfahrer brauchte ein bisschen, bis er den richtigen Knopf fand, um die Tür zu öffnen, doch dann konnte ich einsteigen. Ich zahlte und suchte mir einen Zweier relativ weit hinten. Nach zwei Haltestellen stieg Marion zu.
„Hallo! Du bist ja doch da“ begrüßte sie mich und setzte sich zu mir.
„Hm.“
„Ich muss zugeben, ich hab halb damit gerechnet, dass du’s vergisst.“
Ich schwieg und starrte aus dem Fenster.
„Oke, oke, ich merk’s schon. Wir sind heute nicht sehr gesprächig. Also weniger als sonst.“ Danach schwieg sie. Zumindest für ein paar Minuten. Doch nach der kurzen Schonzeit redete sie wieder so Punkt- und Kommalos, wie eh und je.
„Was für Schuhe willste denn?“ unterbrach ich ihren Redefluss, als wir ausstiegen.
„Äh... Stiefel.“
„Stiefel. Zu der Jahreszeit.“ Skeptisch schaute ich sie an.
„Geeenau. Jetzt müssten sie billiger sein. Ich kaufe sie mir schon für nächsten Winter.“
„Und wenn du rauswächst?“
„Ich wachse kaum noch. Außerdem hole ich sie mir ’ne Nummer zu groß.“
„Aha.“
„Hier, lass uns mal bei ‚Street’ reinschauen, die haben immer ganz gute Schuhe.“
Sie steuerte auf ein kleineres Geschäft links von uns zu. Während sie sich mehrere Schuhe raussuchte und mich zwischendurch um meine Meinung fragte, probierte ich auch ein paar Schuhe an. Ich hatte zwar nicht vor, mir welche zu kaufen, da ich auf das neue Album von Girugamesh sparte, doch ich hatte schon von klein auf meine Freude daran, Schuhe anzuprobieren, selbst dann, wenn ich sie nie auf der Straße tragen würde.
„Komm, wir gehen noch mal zu ‚Deichmann’. Vielleicht finde ich da noch ein Paar, das besser ist, als die hier. Wobei ich das nicht glaube.“ Verliebt betrachtete sie die Stiefel, die sie in der Hand hielt.„Lass sie zurücklegen.“
„Oh, ja, das mach ich!“
Ich ging schon mal raus. Misstrauisch betrachtete ich den Himmel. Es sah arg nach Regen aus.
„So“ Marion trat neben mich, „Deichmann ist am anderen Ende der Fußgängerzone.“
Sie ging los und ich trottete ihr hinterher.
„Hast du Mathe hinbekommen?“
„Nee. Hab gelesen.“
„Macht ja auch mehr Spaß. Alles macht mehr Spaß als Mathe. Aber ich würde es an deiner Stelle noch machen. Wenn du morgen wieder keine Hausaufgaben hast, könnte’s Stress geben.“
„Hm.“
Nach kurzer Zeit hatten wir Deichmann erreicht und sahen uns nun hier um. Als sich Marion gerade dazu entschieden hatte, doch die Stiefel aus Street zu kaufen, klingelte ihr Handy.
„Hallo? – Ach, hi Mark. – Was? – Äh, okay. Dann bis gleich.“
Sie legte auf und sah mich entschuldigend an. „Sorry Leo. Du musst alleine zurückfahren. Mein Bruder holt mich gleich ab. Ich muss wegen ’ner Impfung zum Arzt.“
„Kay. Wann kommt er?“
„In zehn Minuten ist er an der Bushaltestelle, da vorne beim Bäcker.“
„Hm... Und wann kommt der Bus?“
Sie sah auf ihr Handy, um die Uhrzeit nachzugucken. „In ’ner Viertelstunde ungefähr.“
„Dann sollten wir uns beeilen.“
Sie stimmte mir zu und wir gingen im Laufschritt zurück zu Street. Nachdem sie die Schuhe gekauft hatte, ging sie noch mit mir zur Bushaltestelle, da das genau die war, von der ihr Bruder sie abholen wollte. Als wir die Haltestelle erreichten, stand der dunkelblaue Previa schon da.
„Da ist Mark ja schon“ meinte sie, als sie den Wagen erblickte.
„Dann bis morgen.“
Sie stieg bei ihrem Bruder ein. Im Wegfahren winkte sie mir zu. Ich nickte nur. Aber das hatte sie vermutlich gar nicht gesehen.
Ich setzte mich ins Bushäuschen. Als der Bus zu der von Marion genannten Zeit noch nicht kam, sah ich noch mal auf den Plan. Sie hatte sich vertan. Er würde erst in sieben Minuten kommen. Ich hatte mich gerade wieder gesetzt, als plötzlich ein Blitz grelles Licht verbreitete. Zugleich erklang ein ohrenbetäubender Donner. Erschrocken zuckte ich zusammen. Und im nächsten Moment begann es auch schon zu Schütten. Der Regen hämmerte auf das Dach des Bushäuschens und der Himmel erschien pechschwarz. Ich versuchte etwas zu erkennen, doch mehr als ein noch dunkleres Schwarz dort, wo zwischen den Häusern kleine Gassen waren, war selbst mit größter Fantasie nicht zu sehen. Dachte ich zuerst. Doch anscheinend war meine Fantasie größer, als ich angenommen hatte. Zwischen zwei Häusern erschienen auf einmal zwei mattrote Punkte. Ich erklärte mich für bekloppt, da ich bei dem Sauwetter im Grunde genommen gar nichts erkennen konnte. Aber dennoch konnte ich meinen Blick nicht von den Punkten wenden. Aber das waren keine Punkte. Es waren Augen.„Ich glaub, ich spinne“ murmelte ich tonlos. Ich konnte die Augen trotz des starken Regens und der Schwärze immer besser erkennen. Sie waren nicht einfach nur rot, wie ich zuerst gedacht hatte. Sie hatten außerdem eine Art schwarze Maserung.
Je länger ich die Augen anstarrte, umso mehr verlor ich das Gefühl für das Hier und Jetzt. Ich fühlte mich eingesogen, völlig gefangen. Ich versuchte mich zu bewegen, mein Gesicht wegzudrehen, doch mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Und dann wurde mir kalt. Nicht die Art Kälte, die man im Winter spürt, wenn man sich zu dünn anhat, oder wenn man bei nicht allzu warmem Wetter in einen See sprang. Es war eine Kälte, die viel tiefer ging. Die nicht den Körper frieren ließ, sondern die Seele bis ins tiefste Innere erstarren ließ.
Es kam näher. Wer oder was auch immer zu diesen grauenvollen Augen gehörte, schob sich aus der schwarzen Gasse und kam näher. Langsam. Bedrohlich. In mir machte sich ein Gefühl breit, welches ich noch nie zuvor gespürt hatte. Doch ich wusste genau, was dieses kalte Grauen war. Ich hatte Angst. Todesangst.







Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Teil 6 Teil 7 Teil 8 Teil 9 Teil 10 Teil 11 Teil 12 Teil 13 Teil 14 Teil 15 Teil 16 Teil 17 Teil 18 Teil 19 Teil 20


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz