Sheila

Es fühlte sich an, als würde ich auf einer sehr dünnen Schicht Eis über einen kalten See laufen. Die Gefahr war unweigerlich, auch die hohe Wahrscheinlichkeit, einzustürzen. Aber noch war ich es nicht und ich versuchte das sichere Ufer zu erreichen. Das erste Knacken sollte bald folgen.
Meine Finger wischten schnell über den Display, als ich Taylors Nummer wählte. Dieser ging wie üblich kaum zwei Sekunden später dran. "Was gibt's?", fragte er gut gelaunt. "Hey, Tay! Ist euer Fotografiekurs eigentlich noch immer voll?", fragte ich ihn gerade heraus und biss mir auf die Unterlippe, als ich leicht nervös mit dem Radiergummi zu spielen begann. In diesem Zusatzkurs war auch Beth. Es schien mir die beste Chance zu sein, Näheres über die Gang zu erfahren, indem ich mich mit ihr unterhielt. "Solche Fragen stellst du dir, wenn du die Schule verlässt? Da lerne ich neue Seiten an dir kennen, Sheila!" Lachend entfernte er sich vom Hörer. Anscheinend war er gerade beschäftigt. "Ich habe überlegt... etwas Neues auszuprobieren! Ich wollte sicher gehen, dass der Kurs noch einen Platz frei hat!" Ein kurzes Schnaufen, er schien etwas Schweres hochgehoben zu haben. "Ja... ja wir haben seit Neustem zwei Plätze frei. Du Glückspliz." "Oh, wer ist denn gegangen?", fragte ich scheinbar beiläufig. Bitte nicht Beth, bitte nicht Beth!, flehte ich im Stummen. "Die Sollin-Zwillinge, sie arbeiten wohl an einem neuen Projekt. Soll etwas Großes werden, keine Ahnung. Sie verstecken es besser als Felix es bei seinen 'Schachteln' tut." Felix war der Kettenraucher unserer Stufe und würde selbst in den scheinbar aussichtslostesten Fällen nicht erwischt. Keiner wusste, wie er das schaffte. "Nimmst du jemandem mit?", wollte Taylor dann neugierig wissen. "Oh hmm, darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Lasse dich überraschen." Er lachte erneut. "Alles klar, wir sehen uns dann morgen. Der Kurs fängt um Fünf Uhr an." "Gut, wir sehen uns morgen... Was gibt's." Einen Moment schien er den Witz nicht zu verstehen, lachte dann jedoch schallend auf. "Bis dann." Ein erleichtertes Lächeln breitete sich in meinem Gesicht aus und ich seufzte zufrieden. Das war doch ein Anfang! Glücklicherweise schien es zu funktionieren!
Da musste ich plötzlich an Calden denken. Ich hatte es ihm versprochen, ihn über mein Vorhaben zu informieren, falls ich in Richtung der Gang etwas Unternehmen wollte. Sollte ich mich an meine Worte halten oder sollte ich es ihm verschweigen und ihn nicht weiter mit hineinziehen? Hin und hergerissen traf ich eine Entscheidung.
Hey, Calden. Ich habe mich dazu entschieden, morgen zu dem Fotografiekurs zu gehen, um mit Beth über die Gang zu reden. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, es wird nichts Offensichtliches sein. Trotzdem wollte ich dir wegen unserer Abmachung Bescheid sagen. Liebe Grüße, Sheila
Sicher würde er nicht mitkommen wollen und das hieß, dass er außerhalb der Gefahr blieb. Zufrieden schrieb ich weiter.

Sheila

Gerade hatte ich mein Heft zur Seite gelegt, als der kurze Nachrichtenton meines Handys ertönte. Neugierig schaute ich auf das Display und erstarrte. Calden schrieb, dass er morgen zum Kurs mitkommen würde. Sofort merkte ich, wie die Aufregung sich in mir ausbreitete. Das war nicht gut, weil er sich dadurch noch mehr ins Fadenkreuz stellte! Das wollte ich vermeiden, aber wie sollte ich ihn davon überzeugen, dass es okay war, wenn ich alleine dahin ging? Erneut musste ich an seinen Satz denken. Irgendetwas musste in der Vergangenheit passiert sein, damit er sie mindestens so wie ich aufhalten wollte.
Eigentlich wollte ich etwas erwidern, das gegen sein Betreten des Kurses sprach, aber ich konnte es nicht. Wie sollte ich es ihm anders erklären, als dass ich nicht wollte, dass er ein zweites Mal wegen mir in Gefahr geriet? Es schien mir, als wäre dies kein Grund genug. Calden war entschieden, gegen die Gang zu handeln. Vielleicht würden wir morgen etwas finden, womit wir schnell gegen die Gang vorgehen konnten. Dann wäre die Gefahr schnell vorüber und ich musste mir keine Sorgen mehr machen. Da fiel mir etwas ein und schnell tippte ich es:
Okay, aber egal was du morgen tust, spreche nicht schlecht über die Eckenfotografie des Kurses!! Taylor hat mir erzählt, dass der Kursleiter sie sogar eingerahmt hat. Ich weiß, es ist seltsam :D

Sheila

Als mein Handy kurz klingelte, öffnete ich die Nachricht und las sie mir neugierig durch. Ein Lachen verließ meine Lippen und ich tippte schnell eine Antwort: "Seehr gut! :D". Gleich darauf bekam ich wieder eine Nachricht und dachte, Calden hätte geantwortet, aber es war Mona. Sie fragte mich, ob ich Lust hatte, mit ihr Pizza essen zu gehen und da überlegte ich nicht zwei Mal und sagte sofort zu. Wir verabredeten uns für eine halbe Stunde später und ich zog mir nur eine Jacke über, bevor ich losging. Ranya war nicht zu Hause und ich befürchtete, dass sie spät zurückkommen würde. Ich machte mir Sorgen um sie... Was tat sie gerade und war sie noch sauer auf mich? Machte die Gang Druck auf sie? Befand sie sich vielleicht in der Gesellschaft der Gang?! Als ich versuchte, sie anzurufen, ging ihre Mailbox dran. "Hey, hier ist Ranya. Leider bin ich gerade beschäftigt. Spreche mir doch eine Nachricht ein, wenn du willst." Schluckend legte ich auf. Wie lange würde sie sauer auf mich bleiben?

Sheila

"Los, erzähle es mir!", sagte Mona plötzlich und verwirrt sah ich auf. "Was soll ich denn erzählen?", fragte ich sie freundlich und sie lächelte. "Wie Taylor über die Party hergezogen hat! Er muss natürlich etwas darüber auszusetzen haben, aber seine Kommentare sind die witzigsten." Tatsächlich musste ich grinsen und legte meinen Kopf leicht schief. "Ach, das Übliche." "Die Musik?" "Die Musik", bestätigte ich nickend und wir mussten beide lachen. Taylor fand, dass alles, was nicht in seiner Playlist war, kein Lied zum Anhören war. Einmal hatte er kurzzeitig sein Handy an die Boxen angeschlossen und jeden dazu gebracht, plötzlich zu einem ganz anderen Lied zu tanzen. "Hey, sind das nicht Harvey, Calden und die anderen der Basketballmannschaft?", fragte Mona plötzlich und überrascht folgte ich ihrem Blick. Tatsächlich saß die Mannschaft am Tisch und auch Calden war bei seinem Team. Erst wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte, hielt jedoch mein Sprite hoch, als Calden bemerkte, dass ich peinlicher Weise lange zu ihm geschaut hatte und lächelte. "Moment! Habe ich etwas verpasst?!", wollte Mona plötzlich aufgeregt wissen und ich verschluckte mich an meinem Getränk. "W-Was?", brachte ich leise hustend hervor und schnappte nach Luft. "Seit wann grüßt ihr euch?", wollte sie mit einem breiten Grinsen wissen und sah mich erwartungsvoll an.

Sheila

"Seit heute?", sagte ich ein wenig überfordert und verlegen. Das entging meiner guten Freundin natürlich nicht. "Ahh, seit heute also. Merk' dir das Datum!" Ich schüttelte nur ratlos den Kopf, was Mona zum Lachen brachte. "Du hast dir einen echt süßen Jungen ausgesucht! Schade, aber naja, vielleicht sollte das eben nicht so sein! Denkst du, sein Kumpel hat eine Freundin?" "Mona!", sagte ich entsetzt und sie lachte. "War doch nur ein Scherz. Aber den Teil mit dem 'süßen Jungen' habe ich ernst gemeint. Wäre er nicht so zurückhaltend, wären die Mädchen der ganze Stufe hinter ihm her." Bevor ich etwas erwidern konnte, kam zum Glück der Kellner und ich bestellte erleichtert. Mona warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu, beendete das Thema jedoch, wofür ich ihr sehr dankbar war. Wenn sie wüsste, unter welchen Umständen wir uns kennengelernt hatten und noch unter Kontakt blieben... Sie würde vermutlich kreischend das Diner verlassen und erst einmal mit Taylor und meinen Eltern reden.
Mona wollte gerade etwas sagen, versprach sich jedoch, hielt erschrocken inne und begann dann zusammen mit mir schallend an zu lachen. Mona hatte die witzigsten Wortverdreher, die ich kannte.

Sheila

Es war fast schon wie ein normaler Abend, an dem wir ausgegangen waren und ich freute mich, nicht mehr an die Gang zu denken müssen! Zufrieden nagte ich an meiner Pizza und hörte Mona aufmerksam zu, wie sie eine neue Musik-CD für ihre Sammlung ausgesucht hatte. Ab und zu glitt mein Blick zu dem Team, das anscheinend Gesellschaft bekommen hatte. Kimberly, ein Mädchen, das stark ihre eigenen Interessen verfolgte und somit aus der Masse herausstach. Mona fragte mich, ob mir die Pizza schmeckte und lenkt meine Aufmerksamkeit wieder zu unserem Gespräch. Da bemerkte ich plötzlich aus den Augenwinkeln, wie jemand sich an unseren Tisch gestellt hatte und sah überrascht auf. "Na hallo", sagte Mona selbstbewusst und ich legte das Stück Pizza zurück auf einen Teller. "Oh, hey", begrüßte ich ihn verblüfft und Mona lächelte offen. "Können wir dir irgendwie helfen?", fragte sie neugierig.

Sheila

Während ich noch versuchte, zu verstehen, warum Calden plötzlich zu uns an den Tisch gekommen war, bemerkte ich plötzlich den neugierigen Blick, den Mona Calden zuwarf und als ich zu diesem herüberblickte, fiel mir auf, dass dieser ihr aufmerksam in die Augen schaute. Irgendwie... charmant, als wollte er sie beeindrucken. Moment... verstand ich da etwas falsch oder... flirtete Calden gerade wirklich mit Mona? Diese schien die Situation noch einschätzen zu wollen und beantwortete lächelnd seine Frage: "Oh ja, da kann ich dir die Hawaii empfehlen! Oder die mit Margherita mit doppeltem Mozeralla-Käse. Mhmm, die ist wirklich köstlich." Sie zwinkerte ihm zu und ich fühlte mich plötzlich komisch. Unruhig rutschte ich auf meinem Platz vor und zurück und klemmte meine Hände unter meine Oberschenkel. Irgendwie fühlte mich nicht ganz wohl und ich konnte nicht genau sagen, woran es lag. Vielleicht fühlte ich mich fehl am Platz. Als ich einen Blick zu Caldens Freunden warf, merkte ich, dass zwei von ihnen, Harvey, Kimberly und Danny, neugierig zu uns herüber spähten. Hmmm.

Sheila

Unfreiwillig sah ich zwischen den beiden her und war plötzlich ein wenig verärgert über Mona. Okay, es war nicht so, dass Calden und ich etwas miteinander hatten. Aber wenn sie es doch glaubte, wieso machte sie sich dann na ihn ran und ging auf seine Flirtereien ein? Das war doch irgendwie... Argh! Was machte ich mir eigentlich Gedanken darüber? Schweigend mampfte ich an meiner Pizza und hörte plötzlich, wie jemand uns begrüßte. Als ich Caldens Freund, Danny, erblickte, runzelte ich leicht und überrascht die Stirn. Dann setzte er sich prompt neben mich und verringerte auch den Abstand ziwschen uns ein wenig mehr, als es mir lieber gewesen wäre. Auf seine Worte hin zog ich erst meine Augenbraue hoch, ehe ich scheinbar begeistert antwortete: "Kino und Popcorn? Aber klar, definitiv! Doch... weißt du, ich glaube, du hast da nicht ganz Recht." Mona sah mich verwirrt an und fragte mich mit ihrem Blick, was ich sagen wollte. "Ich denke nicht, dass nur wir beide Popcorn und Kino mögen. Nicht wahr - Mona? - Calden? Jeder liebt Popcorn!"

Sheila

Oh Gott, er hatte das völlig falsch verstanden. Da hätte ein Nein sein sollen, aber vermutlich hatte ich es so ausgedrückt, dass man es hatte falsch verstehen können. Hervorragende Leistung, Sheila!, dachte ich ironisch in meinen Gedanken und seufzte innerlich. Als Danny sich dazu entschied, zu gehen, entspannte ich mich jedoch wieder und nickte nur, als ich plötzlich eine leichte Mischung aus Wald und Aftershave wahrnahm. Ich hörte Calden aufmerksam zu und sah zu ihm, als er sich da wieder gerade zurücklehnte. Normaler Weise hätte ich vermutlich gelacht und ihm Recht gegeben, doch dieses Mal brachte ich nur ein leichtes Lächeln hervor. Was war denn nur los mit mir?! Ich merkte erst, dass ich ihm hinterher gesehen hatte, als Mona mich ansprach: "Ist er nicht süß?" Verdattert blickte ich zu ihr, nahm dann nur einen Schluck von meiner Sprite und verschwieg meine Antwort. "Freust du dich nicht auch auf morgen? Das wird sicher toll!", sagte sie begeistert wie immer und ich seufzte kurz. "Wenn Danny noch einmal zu mir zwinkert, nehme ich die Popcornpackung und gebe ihm einen Grund, zu zwinkern." "Ach, Sheila...", seufzte Mona, welche meinen Übermut gut kannte.

Sheila

Leider wollte Mona gar nicht mehr aufhören, über den morgigen Tag zu reden, bis ich sie darum bat, das Thema zu wechseln. Sie tat es mehr oder weniger verwirrt, bis wir unsere Pizzen schließlich aufgegessen hatten und uns schließlich über den Winterball in drei Wochen unterhielten. Viel mehr als die Kleidung unterhielten wir uns jedoch über das Motto und die große Überraschung, die die Sollin-Zwillinge planten. Es musste etwas sein, dass sie mit viel Aufwand in den Vordergrund stellen wollten. Bis dahin würden sie jedoch vermutlich nichts verraten. "Was hat Calden eigentlich zu dir gesagt, bevor er gegangen ist?", wollte Mona dann doch plötzlich wissen und überrascht sah ihn sie an, ehe ich abwinkend sagte: "Ach, nichts Wichtiges." Sie sah gar nicht überzeugt aus, nickte jedoch nur langsam und nippte dann gedankenverloren an ihrer Cola.
Eine Viertel Stunde später stand ich jedoch auf, da ich wissen wollte, ob Ranya zu Hause war und verabschiedete mich von Mona. Als ich an Caldens Tisch vorbeiging, sah ich zu ihnen herüber und lächelte nur leicht. Dabei trafe sich unerwartet Caldens Blick und meiner. Ich nickte ganz leicht, ehe ich nach draußen ging. Puh, es war kalt geworden!